Das dreckigblaue Buch


Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal so etwas finden würde.

Ein kleines Buch, kleiner wie ein Taschenbuch, es lag auf der Bank, an der ich immer saß.

Jeden Tag gehe ich dahin, setze mich und genieße die Sonne, sowie die Aussicht auf den See und die Berge. Aber noch nie lag etwas hier, noch nie begegnete ich einen Menschen, der Platz war immer frei, wenn ich da war oder daran vorbeifuhr.

Doch heute liegt ein kleines Buch hier.

Wer hat das wohl vergessen?

Ob ich da reinsehen darf?

Ein Zwiespalt entsteht, die Neugierde bekämpft meinen Gerechtigkeitssinn.

Sie gewinnt! Vorsichtig hebe ich das Buch auf, wiege es in meiner Hand und schaue mir den Einband an. Dieser verrät mir jedoch nichts, kein Name, kein Titel, nichts.

Vollkommen leer und dunkelblau, schon fast dreckigblau.

Ich schlage die erste Seite auf, wieder leer. Die Zweite.

„Guten Tag Du.“

Ich verstehe es nicht, so wenige Worte auf einer ganzen Seite. Warum?

Die nächste Seite:

„Es tut mir so unendlich leid, was ich Dir angetan habe. Meine Schuld zerfrisst mich und ich werde daran zugrunde gehen.“
Was habe ich da gefunden?
„Seit dem Tag, habe ich keinen einzigen Schluck mehr getrunken. Nie wieder möchte ich so etwas sein und tun. Was ich Dir angetan habe, ist unverzeihlich.“

Ich blicke auf, beobachtet mich jemand?

„Das ist mein Weg, um Verzeihung zu bitten. Mein Weg, diese erdrückende Schuld nicht nur in mir tragen zu müssen. Ich werde Dir erzählen, warum und wie es dazu kam.“
Ich fühle mich wie in einem Dramafilm, die Spannung zerreißt mich förmlich.
Ich lehne mich nach hinten, schaue mich noch einmal um und da ich niemanden entdecke, schlage ich die nächste Seite auf: „Es war ein wundervoller Tag, die Sonne schien und meine Frau, sowie meine Kinder packten unsere Sachen für einen kleinen Ausflug zusammen. Es ging zum See. Dort auf der anderen Seite gibt es einen kleinen Bereich, an dem so gut wie nie Menschen sind. Dort gingen wir im Sommer öfter hin und grillten, badeten und hatten unheimlich viel Spaß.“
Ich überflog die nächste Seite. „Es war kein schöner Tag.“
„Wir stritten uns am See und sie fuhr mit den Kindern nach Hause. Mich ließ sie mit Zelt und Grill zurück. Ich solle den Kopf frei kriegen. Doch ich verlor die Nerven. Der Kasten Bier war viel zu schnell leer, also suchte ich ein Geschäft. Ich gelangte an eine Tanke einige Kilometer weiter und kaufte Nachschub. Am nächsten frischen Morgen stand die Polizei vor mir. Sie waren alle tot. Von einem Betrunkenen angegriffen und getötet.“
Mir stockt der Atem. Hat er?
„Mein Kopf dröhnte, ...“, ich überspringe den Teil und komme zu etwas erneut Spannendem:
„Sie waren weg und ich war schuld, ich hätte dabei sein müssen, sie beschützen müssen. Das wäre meine Aufgabe gewesen. Tage vergingen in völliger Isolation. Alkohol wurde mein Freund. Das reichte irgendwann nicht mehr.“

Die Abenddämmerung verblasst, die Sonne ist fast weg, meine Augen würden schmerzen, wenn ich jetzt weiterlesen würde. Also gehe ich nach Hause. Daheim setze ich mich an den Tisch und schalte die Lampe ein.
„Ich kam an Drogen, an Menschen, an Partys. Monate vergingen. Ich feierte, verdrängte und wollte vergessen. Aber das betrifft Dich nicht. Ich wollte nur, dass Du verstehst, warum, - Nein. Woher, bzw. was ich mit mir rumschleppte. Die x-te Runde mit Ecstasy und anderem gemischten Zeug. Und die größte und beste Party brachten mich zu Dir.“
Ich blättere, nichts. Noch eine Seite weiter; ein Foto. Eine junge braunhaarige Frau mit strahlend eisblauen Augen. Ein Strahlen und eine Aura ging von ihr aus, die mich fast umhauen.
„Tut mir leid, das Bild fand ich im Internet, als ich nach Dir suchte. Es wäre falsch und zu einfach, wenn ich Dich einfach vergesse. Und das was ich Dir angetan habe.“
Ich blättere und blättere, viele Seiten sind leer. Ich schlage das Buch zu, entdecke jedoch davor noch auf der letzten Seite etwas. Ich öffne es, hier steht es auf dem Kopf, also drehe ich das Buch um.
„Das hat mein Leben auf dem Kopf gestellt. Ich betäubte Dich mit Drogen und Alkohol. Du warst Dir bei den Drogen schon nicht sicher, doch dann war alles einfacher für Dich. Du hast so unfassbar schön gelacht und Spaß gehabt. Du bist mir gefolgt auf mein Zimmer, aber wolltest dann nur, dass ich Dich nach Hause bringe. Aber ich wollte mehr fühlen, mehr von dieser puren Ablenkung, mehr als dieses schmerzliche Nichts. Also zwang ich Dich und nahm Dich. Und als das nicht genug war, starbst Du. Weil Du nicht wolltest. Weil ich aufgeben habe. Weil es meine Schuld ist.“
Er hat sie umgebracht? Warum?
„Du hast Dich gewehrt, weil Du nicht wolltest und ich habe mich gewehrt, weil ich wollte. Im Rausch, in meiner Verzweiflung, bist Du erstickt und ich bin geflohen. Und keiner fand heraus, dass ich es war.“ „Ich wollte mich stellen.“
„Aber ich tat es nicht, weil das Gefängnis zu gut für mich wäre. Mein Abschied und mein Schmerz in diesem kleinen Buch - lebt wohl.“

Ich schloss das Buch. Ist er? Ein weiteres Öffnen, verriet mir aber nicht mehr. Ich blätterte alle Seiten durch und da fiel ein kleiner Zettel heraus:


Geplagt, zerfressen und vergoldet,

mein Hass, meine Schuld, mein Sein.
Ich verlor und nahm,
betäubte und belebte,
zerfloss und zerriss Mein und Dein.
Nun konnte ich fühlen,
ich lebte Hass,
verleugnete Trauer und wurde gefressen
von meiner Schuld.
Das war's. Aus und vorbei.

Darunter steht: „Ich will zu meiner Familie auch wenn ich kein Anrecht darauf habe.
Ich werde brennen, mehr habe ich nicht verdient. Meine Schuld hat gesiegt und mich besiegt. Der Teufel wird sich an mir ergötzen, denn … schlimmer, kann es kaum werden.“


Wie in Trance schaffe ich es zu meinem Bett, ist das alles wahr?

 

 

- 25 Jahre später -

 

„Mama, schau mal! Da liegen zwei blaue Bücher auf der Bank. Darf ich sie lesen?“

 

 


Vielen Dank an die Schreiberlinge
für den freien Wettbewerb im Jan. 2020

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