WEG


Morgen darf ich sie wieder besuchen. Ich freue mich so sehr, dass ich mich kaum auf meine Aufgaben konzentrieren kann. Es ist schon ein paar Tage her, dass ich sie gesehen habe. Sie ist so unfassbar schön, ich ziehe scharf die Luft ein bei dem Gedanken. Sie ist weit und weltoffen, sie hat eine lockere Art an sich und glänzt in all ihren Facetten. Ständig überrascht sie mich und fasziniert mich. “Kannst du das bitte wegräumen?”, fragt ein Arbeitskollege und grinst, als hätte er mich bei etwas Geheimes erwischt. Schnell räume ich die Ordner weg und schaue wieder in meinen Bildschirm um einfach nur vor mich hin zu sinnieren.

 

Es ist endlich Freitag, die Arbeit ist zu Ende und ich werfe mich in mein Auto, ein weißer KIA ProCeed GT - auf direktem Weg zu ihr. Ich parke mein Auto, öffne die Tür und die Brise umgibt mich. Langsam atme ich ein und sauge den Geruch auf, feucht, frisch und frei. Schnell schließe ich mein Auto ab und sprinte den Weg hinab. Es dauert nicht lange und schon stehe ich im weichen Sand, vor ihr, vor dem Meer und mein Herz beginnt wie wild zu schlagen.

 

In dieser Ecke bin ich allein, vor allem um diese Jahreszeit. Es ist Frühlingsanfang, ein noch relativ kalter, aber sonniger Tag mit angenehmen 18° Grad. Ich setze mich in den Sand, mit wenig Abstand zum Meer und fange an zu reden: “Heute war der Tag eigentlich ganz okay, ich war so aufgeregt, dass ich dich wieder sehe, dass mir meine negativen Gedanken gar nicht aufgefallen sind.” Das Rauschen des Meeres ist Musik in meinen Ohren. “Irgendwann werden wir vereint sein. Dann verlasse ich diesen sinnlosen Alltag und gehe mit dir auf Reisen. Ich will hier nicht mehr sein. Das habe ich schon vor langer Zeit so entschieden und das weißt du. Ich hoffe du freust dich, wenn ich zu dir komme.

”Meine Schuhe verlassen meinen Körper, ebenso meine Socken. Ich hieve mich hoch und gehe mit den Füßen ins kalte Wasser.

 

Das Wasser ist klar, der Sand weich und der Horizont ist so weit entfernt. “So offen muss man sein”, sage ich, “das würde ich gerne sein”, flüstere ich.

Es vergehen Stunden, die Sonne neigt dem Untergang und verstrickt das Wasser in ein wunderschönes Farbspiel aus roten, orangenen und lilanen Tönen. Ein weiß schimmert durch, ebenso gelb und magenta. Meine Augen beginnen zu glänzen und mein Herz öffnet sich.

Datisch gehe ich schon meinen Kalender durch, wann ich endlich zu ihr kann, vollkommen und ganz. Einfach ein Boot kaufen oder bauen und mich treiben lassen. Alternativ einfach reinlaufen und nie mehr zurück kommen. Ja, ich liebe das Meer. Sogar mehr wie mein eigenes Leben. Dieses würde ich gerne beenden, einfach, weil nichts genug Wert für mich hat, um es mir noch länger antun zu wollen. Höchstens das Meer, aber da ich hier auch sterben würde, erfroren, verhungert oder ermordet, kann ich mich auch gleich rein stürzen und alles beenden.

 

Ich begegne oft neue Menschen, aber sie haben mich noch nie begeistert oder fasziniert. In der Arbeit habe ich mit Kunden zu tun, die anrufen, weil sie etwas nicht erhalten haben, etwas falsch ist oder sie Nachschub bestellen möchten. Ich gehe dran und erfülle ihre Wünsche, so gut es geht. Im persönlichen Kontakt wäre das nichts für mich, sie würden mich nur Augenverdrehen sehen und nie wieder bei uns einkaufen. Außerhalb der Arbeit bin ich gern unterwegs. Entweder in einer Bar, mit Freunden Billard spielen, Baden oder einen anderen Sport nachgehen. Sie erreichen mich aber nicht.

Nicht, weil ich besser bin - so arrogant bin ich nicht. Sondern weil sie es nicht wollen und ich es nicht will. Ich komme mit ihnen klar, aber eine besondere Nähe brauche ich nicht.

Ebenso verstehe ich nicht, wieso ich nur eine Person ‘lieben’ soll. Geschweige denn, wie das überhaupt funktioniert. Bisher konnte mir noch keiner erklären, wie ich diese biologischen Reaktionen auslösen soll, wenn ich eine attraktive Person sehe. Sex brauche ich auch nicht. Noch nie und auch in Zukunft nicht - wozu auch? In meiner Vorstellung gibt es nichts abtörnenderes wie zwei Menschen, die ihre verschwitzte Haut aneinander reiben und sämtliche Flüssigkeiten miteinander vertauschen. Einen Trieb besitze ich auch nicht, warum soll ich mich also der Gesellschaft unterwerfen und wie ein Tier alles bespringen, was nicht rechtzeitig vor mir flieht? Ich gönne jedem diesen Spaß, der es mir nicht aufdreht.

 

“Was machst du heute?”, lese ich auf meinem Smartphone. Ich antworte, dass ich zum Strand fahre. Immerhin ist es schon eine Woche her, dass ich dort war. Prompt kommt die Rückmeldung:

“Darf ich mit?”

Ich schüttle den Kopf und verdrehe die Augen, bis mir auffällt, dass Stefan es gar nicht sehen kann. Dann schreibe ich: “Heute ist schlecht, nächstes mal ok?”

Er tippt. “Das sagst du immer.”

Ich seufze, er hat recht. Ich schiebe es immer auf. Vielleicht sollte ich ehrlich sein und sagen, dass es mein Einzelding ist und er nie mit darf. Stattdessen schreibe ich:

“Ausnahmsweise. Aber nur, wenn du in 15 min da bist.”

Stefan ist ein guter Freund, der noch nie Anstalten gemacht hat, mir in irgendeiner Weise zu nah zu kommen. Ich wäre zwar gern alleine, aber das eine Mal werde ich schon überleben.

 

Pünktlich 15 Minuten später ist er auch schon da. Mit einem geschultertem Rucksack und einem breiten Grinsen. Praktisch, dass er sogut wie gegenüber wohnt. Meine Tasche halte ich auch schon und nach dem Begrüßen, lassen wir uns beide in mein Auto fallen. Nach einer Stunde Fahrt, in welcher er mir vom neuesten Klatsch berichtet hat, steigen wir aus. Wieder genieße ich den erfrischenden Duft. Auch Stefan atmet tief ein, “so frisch”, meint er und ich nicke. Wir gehen nebeneinander runter und suchen uns ein leeres Plätzchen. Hier breiten wir unsere Decken aus und lassen uns auf dem Boden nieder. “Und was machst du hier immer allein?”, durchbricht er die Stille und lässt mich in seine Augen schauen. Schnell sehe ich weg und werde leicht rot. Ich mag keinen Augenkontakt, als würde jemand meine Seele sehen, als wäre der Person dann klar, dass ich nicht leben will. Nein, noch schlimmer, dass er erkennt, dass ich bereits tot bin und noch nie gelebt habe. Und rot werde ich, weil seine Frage mich erwischt hat. Was tue ich hier? “Ich erzähle dem Meer, wie es mir geht und wie meine Woche gelaufen ist”, sage ich dann ehrlich. Er sieht mich fragend an. Doch als er keine Antwort bekommt, schaut er zum Meer und wir beide genießen das Schweigen und Rauschen der Weite.

 

Als die Sonne Richtung Horizont steht, fängt er an zu reden: “Die Woche war sehr anstrengend und stressig. Nachdem ich beruflich viel unterwegs war, habe ich erfahren, dass ein Auftrag geplatzt ist. Auf den ich gesetzt habe. Das hat meinem Chef nicht gefallen und ich habe weiteren Stress erhalten.

Mir persönlich geht es nicht so gut, mein Körper macht so langsam nicht mehr alles mit. Ich bin zwar erst 35 Jahre alt, aber mein Nacken tut immer öfter weh, ebenso mein Rücken.

Es könnte aber auch am Stress liegen. Ich bin unzufrieden und einsam. Viel zu lange ist es her, dass ich einfach nichts getan habe oder mal Spaß hatte beim Ausgehen. Deshalb danke ich Lis’”, dabei schaut er zu mir rüber, “für den tollen Tag heute. Mir ist jetzt klar, was ich nicht mehr will und am Montag werde ich meinen Job kündigen.” In gewisser Weise fühl ich mich verpflichtet ihm zu antworten. Aber mein Gefühl sagt mir, dass er nicht zu mir gesprochen hat und somit auch keine Antwort erwartet. Deshalb schweige ich weiterhin.

 

Auch als die Sonne verschwunden ist und das Farbspiel in ein tiefes Schwarz gehüllt wird, habe ich noch nichts gesagt. Langsam frage ich mich, ob es wegen Stefans Anwesenheit ist oder ob ich heute einfach nichts zu sagen habe.

Weshalb ich aufstehe, mich strecke, zum Wasser gehe um meine Hände nass zu machen und mein Gesicht zu waschen.

“Fahren wir?”, frage ich dann. Er nickt und grinst leicht.Wir packen unsere Sachen zusammen und gehen zum Auto hoch. “Wollen wir vielleicht noch irgendwo etwas Essen?”

“Gute Idee, worauf hast du Lust?”, frage ich. Schelmisch grinst er, “Pizza und Film bei dir?”

Eigentlich bin ich müde und wollte noch nach einem Boot schauen heute. Zögernd verschiebe ich mein Vorhaben auf morgen und sage zu.

 

 

Zwei Monate später hole ich endlich mein kleines Ruderboot ab.

Ich habe es gebraucht kaufen können und es direkt mitgenommen.

Jetzt muss ich nur noch ein paar Sachen herrichten, meinen Job kündigen und mich dann auf die Reise begeben. Am Montag reiche ich die Kündigung ein und nehme für die Kündigungsfrist meinen Urlaub, anschließend kündige ich meine Wohnung und verkaufe sämtliche Sachen, die ich nicht mehr brauche. Wir haben zum Glück eine andere Kündigungsfrist vereinbart, sodass ich nur noch diesen und nächsten Monat die Miete bezahlen muss. Das lasse ich mit der Kaution verrechnen und erhalten noch 750€ zurück. Als Möbel rausgetragen werden, kommt Steffen und sieht mich fragend an: “Du ziehst um?” Ich schüttele den Kopf, “nein, ich habe mir ein Boot gekauft, ich werde eine kleine Reise machen.” Er kommt mir näher und sieht mich eindringlich an. “Allein?” Ich nicke. “Und wo wohnst du, wenn du wieder zurückkommst?” Ich verstehe seine Frage nicht und offensichtlich mache ich so ein Gesicht, den er zieht scharf die Luft ein. Ehe ich irgendwas sagen konnte, zieht er mich in eine tiefe Umarmung. “Ich kann dich nicht aufhalten, oder?” Langsam schüttle ich den Kopf. Er sieht traurig zu Boden und verabschiedet sich mit einem seufzen. Was er sich wohl denkt?

Die Wohnung ist endlich leer, den Schlüssel übergebe ich gerade meinem Vermieter, ein leises “Tschüß”, verlässt meine Lippen und ich drehe mich um. Zweitschlüssel des Autos abgeben. Einkaufen. Und zum Meer.

Den Schlüssel werfe ich bei Steffen in den Postkasten. Im Geschäft kaufe ich etwas zu essen, trinken und noch eine warme Decke sowie Abdeckungen, falls es regnet.

Ich fahre zur Bucht und lasse mein Boot ins Wasser, das Auto stelle ich oben ab, darin liegt eine Notiz, dass er gut darauf aufpassen soll.

Mit den ganzen Sachen bepackt gehe ich hinunter, in mein neues Leben. Oder in das Ende. Ich habe Glück, heute scheint die Sonne und ich starte mit Strahlen, die meine Haut kitzeln. Mit einem kräftigen Stoß treibe ich hinaus. Ich muss grinsen, endlich bin ich hier. Bei ihr. Meine linke Hand lasse ich ins Wasser baumeln, kalt, frisch und frei.


Vielen Dank an "kelebek-verlag.de" für die Ausschreibung: "Ins Wasser gefallen"

(05.05.2020) an der ich nicht teilgenommen habe ^^

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