Privates & die Suche


Im Krankenhaus angekommen, sehe ich Susann und meine Mutter Christine, sie sitzen und warten. »Was ist passiert? Wie lange seid ihr schon hier?«, frage ich und sehe, wie beide aufspringen und völlig aufgelöst sind. »Er ist …«, fängt Mam an, bricht aber ab, als sie sich erinnert.

»... wir haben fern gesehen, es war eigentlich nichts Besonderes. Auf einmal meinte er, er fühle sich nicht gut. Dann hat er komisch gesprochen und konnte seinen rechten Arm nicht mehr bewegen.« 

Sie hadert mit den Worten, fährt dann aber fort, als wir uns alle wieder hinsetzen: »Ich habe dann gleich den Notruf gewählt, kurz darauf kam Susann ohnehin vorbei. Das ist noch nicht so lange her.«

»Und jetzt warten wir, bis wir erfahren, wie es aussieht«, ergänzt meine Schwester.

Wie aufs Stichwort kommt der Arzt, stellt sich bildhaft, wie aus vielen Serien bekannt, vor uns und verkündet die Nachricht: »Ihr Mann hatte einen Schlaganfall. Leider einen Gravierenden. Wir konnten das Blutgerinnsel auflösen, aber die Bildgebung hat gezeigt, dass es noch zwei oder drei gefährliche Stellen gibt. Wir haben ihm ein Mittel verabreicht, welches die Gerinnsel auflösen soll. In ein paar Stunden wissen wir mehr.«

»Dürfen wir zu ihm?«, ist es meine Schwester, die die Worte zuerst findet.

»Er ist aktuell nicht wach. Eine Person kann rein, der Rest im besten Fall morgen.«

»Ist er soweit stabil?«, frage ich genauer nach. Die Mimik des Arztes lässt sich kaum lesen und die Art, wie er es sagt, lässt viel Spielraum übrig: »Dazu können wir aktuell nichts sagen, die nächsten Stunden sind entscheidend.«

Er möchte schon gehen, doch unsere Mutter will noch etwas wissen: »Ist er … wird er der Alte sein?«

Den Blickkontakt meidend wiederholt er den Satz von eben und sorgt so dafür, dass er noch  unsympathischer wirkt.

 

Wir warten darauf, dass unsere Mutter zurückkommt und hüllen uns beide in Schweigen.

Unbeholfen frage ich, ob sie einen Kaffee möchte.

»Nein, danke. Wir sollten fahren, sobald sie rauskommt. Ich fahre dann gleich mit zu ihr. Helfe Sachen rauszusuchen. Kommst du auch?«

Komme ich auch? Sollte ich? Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich muss was sagen. Kann ich denn irgendwas ausrichten? 

»Ja, natürlich«, antworte ich, weil ich glaube, dass es so richtig sei.

 

Ich bleibe sogar über Nacht. Viel geredet haben wir nicht und ich bin auch früh ins Bett gegangen. Susann ist spät wieder gefahren. In der Früh ist meine Mutter vor mir auf und bietet mir eine Tasse Kaffee an. »Fährst du gleich wieder rein?«, frage ich, nachdem ich dankend annehme. Sie sieht sehr mitgenommen aus, wirkt abwesend und nach einer kurzen Zeit nickt sie. »Du musst zur Arbeit, oder?«, stellt sie die Gegenfrage. Ich wünschte, ich könnte es verneinen, aber gerade jetzt, mit diesem Fall, schwierig. 

»Ja, aber ich kann jederzeit vorbeikommen«, versuche ich es so empathisch wie möglich rüberzubringen. »Schon okay, wir können im Moment nichts tun, als hoffen, beten und warten.« 

»Ich lasse dich ungern allein.«

»Susann kommt später, alles ist okay.«

Ich glaube ihr nicht. Sie glaubt sich nicht einmal selbst, aber was soll ich tun? Was soll ich sagen? »Nichts ist okay und das ist in Ordnung so. Du musst nicht funktionieren, Mam’«, sage ich dann gefühlt zum ersten Mal etwas so tief Ehrliches zu ihr.

 

Und jetzt sitze ich im Büro und lasse die letzten Stunden Revue passieren, völlig vergessen werde ich mit der Erinnerung überrumpelt, dass ich ja eine Anzeige in Jodel gestartet habe.

Ich zücke mein Handy aus der Tasche und sehe, dass es einige Benachrichtigungen gibt.

 

OJ: Wir suchen im Namen der Polizei Menschen, die Kontakt zu einem 18-jährigen Mann, hatten, welcher sich ggf. über Mobbingfällen in einer Baufirma beklagt hat.

 

1: Jaaaa ist klar und ich bin Gott im Jemen

2: Welche Firma?

3: Um wen geht es?

4: @1 sicher doch. Und ich sitze mit @OJ im Paulanergarten 😂

1: @4 kann ich auch kommen?

4: lässt sich der Gott im Jemen zum Fußvolk nieder? @1

5: 🍿

1: @4 stimmt, lass ich lieber.

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5: Du kannst auch mit mir Polizeispiele spielen 😏

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12: Geht’s um Simon?

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11: @5 sind es nicht immer zwei Handschellen? Dann bin ich dabei!

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15: @12 welcher Simon?

12: Vor einer Woche gab es doch den einen Beitrag im Radio, dass ein Name gesucht wird, von jemanden. @15

15: @12 und wie kommst du auf Simon?

12: @15 Connections.

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2: @OJ? Gibts noch Infos?

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18: Halloooooooo? @OJ

6: Wie zu erwarten, wieder irgendein Troll. Aber echt mies.

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7: Wie gesagt, ich könnte was wissen. @OJ

1: Bestimmt ist es nur so ein Aufmerksamkeitsding und jetzt kommt nie mehr was.

9: Um was gehts hier eigentlich?

 

Ich schließe Jodel wieder, atme tief durch und öffne es erneut.

OJ: Entschuldigt, ich war verhindert. @12, @7 könnt Ihr, sofern Ihr wirklich etwas wisst, bei der Polizei anrufen? Vorab Danke!

 

Es dauert keine Minute, dann kommt eine Reaktion, ein Lachsmiley auf meinen Post und darunter:

1: Alles klar, brauchst du n Paulanerspezi? Ruf doch selbst an @OJ.

OJ: Wäre absurd, wenn ich mich selbst anrufe, finden Sie nicht?

 

Ich lege mein Handy weg und schaue in die Mails, Jodel HQ hat tatsächlich geantwortet:

»Guten Tag Frau Growe,

sehr gerne unterstützen wir Sie. Falls Sie schon einen Account haben, teilen Sie mir bitte die ID mit, dann werden wir die Kennung hinterlegen und Sie können autorisiert einen Jodel verfassen.

 

MfG Jodel«

 

Wo steht denn bitte meine ID? Nach kurzem Suchen konnte ich es unter den Einstellungen finden und stelle die Mail fertig. Dabei füge ich noch meine Telefonnummer hinzu, falls sie Fragen haben. Rufe ich jetzt den Journalisten an?

Ich schüttele den Kopf und gehe zu meinem Team raus, irgendwie fühlt sich alles falsch an. Abwesend. Ich kann mich nicht wirklich auf den Fall konzentrieren, dabei denke ich auch nicht explizit an meinen Vater. »Sabeth«, ruft Ray und kommt auf mich zu. »Geht's dir gut? Wisst ihr schon was Neues?«, sagt er übertrieben empathisch. »Nein und nein«, beantworte ich wahrheitsgemäß. Das irritiert ihn. Sowas überrascht vermutlich viele, aber es erscheint mir irrsinnig auf die Frage, wie es mir geht, mit »gut« zu antworten, wenn überall bekannt ist, was passiert ist. »Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragt er umso ernster.

Ich grinse leicht, es fühlt sich unecht an, »du könntest den Fall lösen.«

Nachdem das Gesagte über eine scheinbar lange Leitung bei ihm ankommt, lacht er leicht auf. »Wenns so einfach wäre.«

Rasch setze ich meinen Weg fort und frage die Leute, die ich gestern auf die Online-Recherche angesetzt habe, ob sich schon Menschen gemeldet haben, die eventuell Kontakt mit ihm hatten.

»Ganz viel Fake«, sagt eine, die anderen nicken. Ich seufze.

 

Ray ist mir gefolgt, denn als ich mich umdrehe, steht er direkt hinter mir und ich zucke leicht. »Können wir reden?«, fragt er dann und sieht mich entschuldigend an.

»Klar.«

In meinem Büro ist er zuerst überraschend still, als ich dann nachhake, rückt er endlich raus:

»Meinst du, am Dienstag finden wir wieder jemanden? Die beiden Morde waren jeweils an einem Dienstag, mit zwei Wochen Abstand.«

Nachdenkend lehne ich mich nach hinten, kann das sein? »Was meint Melinda dazu?«, gebe ich von mir, teilweise selbst überrascht, aber ich schätze ihren Rat inzwischen sehr.

Ray zuckt mit den Schultern. »Bisher bin ich damit noch nicht hausieren gegangen«, gibt er dann kleinlaut zu. Und ich nicke, verständlich. Am PC ploppt eine Benachrichtigung auf, Jodel HQ.

»Wir haben Ihrer ID eine Kennzeichnung hinterlegt, am besten, Sie löschen den ursprünglichen Post und starten so einen neuen.«

Unsicher, ob das überhaupt etwas ändert, immerhin waren die Nachrichten mehr als nutzlos. Eher beschämend und dort treiben sich heute Jugendliche oder junge Erwachsene herum?

»Gibt’s was?«, wirkt Ray neugierig und ich kläre ihn auf, zeige ihm den alten Jodel, ehe ich ihn lösche. Er schmunzelt, grinst und lacht stellenweise auf. 

»Ich finde das eher nicht so witzig.«

»Was hast du erwartet? Warum sollte dir das jemand glauben, dann auch noch auf einer anonymen Plattform?«, wirft er mir entgegen und ich muss ihm unweigerlich zustimmen.

War wohl keine gute Idee. Ob ein neuer Post mit der Kennung etwas ändert?

 

»Lass uns zuerst zu Melinda gehen.«

Ray schüttelt den Kopf, »bleib, ich hol’ sie«, sagt er bestimmt und ich verstehe diesen Zug. Mit solchen Mutmaßungen müssen wir vorsichtig sein. 

Auf der anderen Seite wäre es dann umso dringender, wenn es sich bewahrheitet. Dann würde in drei Tagen irgendjemand sterben. Welches Organ-Tier wird es dann sein? Wird es noch schlimmer als zuvor und wo wird das passieren?

Ab drei Morde ist es ein Serienmörder. Wenn das eintritt, kann ich Schlaf und den mentalen Beistand meiner Mutter vergessen. Oder soll ich den Fall abgeben? Kann ich hier etwas tun oder ist es eine Nummer zu groß? Wahrscheinlich wird er mir dann eh entzogen …

Müde lehne ich mich zurück und bedanke mich beim Jodel HQ. Lösche dann den Jodel und setze ihn erneut auf. Neben meinem Titel »OJ«, steht jetzt grau hinterlegt: »Kriminalpolizeistation KR-201« und unser Standort. Ehe ich aktualisieren kann und die ersten Reaktionen sehe, steht Ray mit Melinda im Schlepptau vor mir. »Setzt euch.«

 

»Es ist nicht unüblich, dass Täter einem bestimmten Rhythmus oder Ritual folgen. Es kann also durchaus sein, dass die Morde im 2-Wochentakt erfolgen. Aber das können wir anhand zweier Morde nicht bestätigt sagen«, erklärt sie, nachdem wir sie eingeweiht haben. Ich unterbreche sie ungewollt, als sie weiterreden will: »Wenn am Dienstag aber das nächste Opfer gefunden wird …«

»Dann würde ich es aus psychologischer Sicht als Muster akzeptieren und davon ausgehen, dass es erneut vorkommt«, beendet sie meinen Satz. »Was sagt uns das über unseren Täter?«, bringt Ray eine gute Frage ins Spiel, die allerdings dafür sorgt, dass wir alle in unsere Gedanken fallen.

Meine fühlen sich jedoch leer an. Ich kann das aktuell nicht, ob das nun mit meinem Paps zusammenhängt oder nicht. Deshalb warte ich darauf, dass einer von ihnen etwas sagt.

»Vielleicht haben zwei Wochen irgendeine persönliche Bedeutung«, philosophiert Melinda. 

»Oder ganz banal, da passt es zeitlich besser rein?«, spuke ich aus, selbst überrascht, dass mein Hirn doch dabei ist, ohne mich vorher einzuweihen. »Wie meinst du das?«, hakt Ray nach.

»Vielleicht hat der Täter am Dienstag frei? Die Morde sind bisher immer zu undenkbarer Zeit erfolgt. Irgendwann Dienstag früh, zwischen 3 und 6 Uhr. Die meisten arbeiten am Dienstag.«

»Also suchen wir jemanden, der am Dienstag nicht arbeitet?«

Ich schüttele den Kopf, »vielleicht später?«

»Aber das ist doch absurd, es gibt auch Jobs, die Gleitzeit haben und wo die Arbeitnehmer erst um 10 Uhr oder noch später auftauchen können. Nach Lust und Laune.«

Ich seufze, »Wie schafft unser Täter es, fit zu sein und fehlerfrei zu arbeiten, zu dieser frühen Stunde?«

»Vielleicht ist es Gewohnheit? Nachtschichten? Frühschichten?«

Das bringt alles nichts. Ich lasse die beiden noch weiterreden und schaue sichtbar auf mein Handy. Jodel.

 

1: Nein, sagt mir nichts. Was ist passiert?

2: War nicht erst vor kurzem der gleiche Beitrag?

1: @2 echt? Schick mal.

3: Ich bin @12 von vorhin. Gehts um den umgebrachten Jungen?

4: Es wurde jemand umgebracht? Hier? Bei uns? @3 

5: Was hab ich verpasst?

2: *Link*

1: Ocha, krass.

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OJ: @3 Kennen Sie ihn? Ruf bitte durch und verlang nach Growe.

3: Oh nein, tut mir leid. Ich habe nur den Beitrag gehört im Radio. Schrecklich.

OJ: Aber du kennst seinen Namen? @3

3: Von der Berufsschule.

5: Echt wahr? Einer wurde umgebracht? Warum?

1: Scheiße. Ich hör mich mal um @OJ

OJ: @3, Ist es in der Berufsschule bekannt? Können Sie sich dort umhören, ob jemand näheren Kontakt zu ihm hatte?

3: Klar, das mach ich gleich. @OJ 

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»Sabeth?«, zieht mich Ray aus dem Jodelbann. Ich schaue auf und Melinda verabschiedet sich. Sie müsse noch etwas anderes erledigen. Ray geht auch und ich bleibe alleine in meinem Büro. 

Wieder drängt sich die Frage auf, ob ich Günther Dahle anrufen soll. Quer grätscht die Frage rein, ob ich den Fall nicht doch abgeben soll. Hätte sich Günther nicht gemeldet, wenn es etwas gegeben hätte? Oder eine der gefundenen Personen? 

Ich würde lachen, wenn mir danach zumute wäre. Ein Journalist, der sich gleich meldet. Hach. 

Ob es besser wäre, wenn ich hinfahre? Ich finde ihn aber komisch, aufdringlich. Irgendwie weiß er zu viel und ist nervig, wie so ein Schredder, der alles in sich aufnimmt und einen zu Hackschnitzel verarbeitet, wenn man nicht aufpasst.

Mhm … aber er weiß viel, was komisch ist und ich mir vielleicht genauer ansehen sollte.

Mir fällt es nicht mehr genau ein, aber ich glaube, so etwas habe ich mal gelesen, der Journalist steckte am Ende hinter den Morden. Ist es hier genauso? Vielleicht war das aber auch nur Fiktion. Ich bekomme nun doch Lust hinzufahren und suche mir die Adresse raus.

»Ray, kommst du mit?«, spreche ich ihn an, nachdem ich mich an ihn herangeschlichen habe und dasselbe versucht habe. Er erschrickt jedoch nicht und fragt, wohin es geht. Nach einer kurzen Erläuterung ist er dabei. Gut so.