Tatjana Reichelt


Mäuse sind so sozial wie unsere Nieren, sie kümmern sich sogar um fremde Junge. Ob die Niere deshalb so gern gespendet wird?

 

Die beigelegte Notiz ist ähnlich wie die anderen, belehrend, mühsam gestempelt. Warum macht sich unser Täter die Mühe, das zu stempeln?

 

»Wen haben wir?«, schieße ich Ray förmlich mit der Frage ab, als er zum Besprechungsraum kommt. Das Team ist bereits versammelt und ich habe die Notiz zu unseren Daten am Whiteboard notiert.

»Tatjana Reichelt, 31 Jahre, angestellt bei Text-Litup GmbH im Marketingbereich.«

»Das ist ein Verlag, richtig?«, hinterfragt Melinda. Ray nickt, »richtig.«

Sie verzieht das Gesicht und denkt angestrengt nach, »worüber denkst du nach?«, frage ich gleich nach. »Na … bisher hatten die Opfer immer etwas mit der Baufirma zu tun. Gibt es eine Überschneidung zu den Firmen?«

Ich weise zwei Polizisten darauf an, das herauszufinden. Aber ich denke nicht, den Gedanken, dass die Morde alle etwas mit einer Baufirma zu tun haben, habe ich schon verworfen. Dazu ist die Mordmethode zu speziell. Warum sollte jemand bei einer Fehde gegenüber Firmen die Angestellten so ausstellen? Es scheint mir tatsächlich eher so, wie Melo einmal meinte. 

»Unser Täter sieht sich als Künstler«, spricht plötzlich einer aus dem Team meinen Gedanken laut aus.

Als mein Blick auf die betroffene Person, eine Streifenpolizistin, Lena Boyko, fällt, fährt sie fort, dabei ist ihr sichtlich unwohl: »Ich glaube nicht, dass alle Opfer etwas miteinander zu tun haben. Eher, dass es ein Zufall ist, dass die ersten beiden diese Überschneidung haben. Ich mein, wenn jemand auf ein Unternehmen sauer wäre, dann würde es verklagt werden, wenn es doch eher um Rache oder Gewalt geht, dann geht das doch auf explizit die Personen, die was verschuldet haben. Gut, vielleicht auch wahllos irgendwen, um der Firma zu schaden oder sie in Verruf zu bringen, wie es bei der Kraaz war …«

Sie stoppt, weil alle sie anstarren und ihr bewusst wird, dass sie ausschweifend erzählt.

»Nein, fahren Sie fort. Ich teile Ihre Ansicht«, lenke ich ein und hoffe, sie behält den Fluss.

Lena sieht mich überrascht an und fährt fort: »... jedenfalls würde doch keiner ein Kunstprojekt daraus machen.« Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: »Oder gibts bei den Kunden eine künstlerische Person, der etwas Wichtiges zerstört wurde?«

Ich schaue in die Runde, dann schüttele ich den Kopf. »Wir sind alle Kunden durchgegangen, weder wurde etwas beschädigt, noch gab es Schwierigkeiten oder Streitereien, die besonders auffällig wären. Aber vielleicht sollten wir das genauer überprüfen«, gebe ich von mir und weise diese Aufgabe zwei anderen zu. »Bitte persönlich.«

 

»Da gibt’s noch etwas«, meldet sich Ray. Alle horchen hin.

»Tatjana ist in den Polizeiakten, sie wurde in der Jugend einmal wegen Diebstahl verhaftet und einmal mit Drogenbesitz erwischt. Beides waren jedoch nur kleinere Vergehen, die mit Bußgeldern abgegolten wurden.«

Ich nicke schwach, wieder stört mich etwas. Es ist anders. Warum ist dieser - der dritte - Mord anders? 

»Der Darm wurde immer noch nicht gefunden?«

Das Team schüttelt den Kopf.

 

Anschließend delegiere ich noch weitere Teammitglieder, den Tatort und dessen Umfeld genau  zu durchleuchten, die Bewohner zu befragen und dem IT-Team schaffe ich direkt an, alles zu suchen, was sie finden können. »War wieder kein Smartphone dabei?«, entgegnet einer der beiden. Ich schüttele meinen Kopf, »nein.«

Nur Lena Boyko bleibt übrig, etwas verdutzt will sie schon gehen und den anderen helfen, aber ich halte sie davon ab und bitte sie, mich in mein Büro zu begleiten, nachdem alle weg sind. 

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, sind ihre ersten Worte, nachdem Ray die Türe geschlossen hat. Er sieht mich genauso fragend an, wie sie. »Nein«, flüstere ich zunächst. Das scheint heute mein Lieblingswort zu sein. »Ich möchte, dass Sie mich heute begleiten, Frau Boyko.«

Ihr Blick spiegelt Überraschung wider und sie weiß zunächst nicht, was sie sagen soll, doch dann findet sie die Worte: »Natürlich, gern.« 

»Ich muss noch ein Telefonat führen, wir holen Sie dann ab.«

Sie nickt, bietet uns das Du an, welches wir annehmen und ebenfalls anbieten, dann geht sie.

Ray sieht mich immer noch fragend an. »Mhm?«, macht er dann, als ich nichts dazu sage.

Ich zucke mit den Schultern und grinse leicht. Dann zücke ich mein Handy - Jodel.

@13 hat mir seine Nummer geschickt und ich meinte, dass ich heute anrufe. Zwar ist das nicht so dringend, wie der aktuelle Fall, aber ich habe ein gutes Gefühl, dass es etwas bringen könnte.

 

»Mordkommission - Elisabeth Growe. Wir haben in Jodel geschrieben, haben Sie kurz Zeit?«

Ein junger Erwachsene antwortet: »Äh, Moment.«

Ich höre, wie er aufsteht und irgendwohin geht. »Ja, jetzt.«

»Es geht um den jungen Mann, mit welchem Sie Kontakt hatten«, fasse ich zusammen.

»Genau, Simon. Schrecklich, was passiert ist. Jedenfalls haben wir regelmäßig geschrieben und er meinte oft, dass seine Arbeit und das alles so nervig sei. Auf die Frage, warum er nicht kündigt, meinte er immer, dass er ja fast fertig sei und doch nie was findet.«

Er seufzt, »was totaler Quatsch ist.«

»Wie heißen Sie?«, frage ich für die Bürokratie. »Entschuldigung, Sven Ams.«

»Worum ging es bei Ihren Chats? Dürften wir diese lesen?«, hake ich nach.

»Wir haben oft über seine Arbeit geschrieben, übers Zocken, ohne dass wir je zusammen gespielt haben, dann über Unternehmungen, Alltagszeug halt.«

»Laut unserem Wissen hatte Simon keine Freizeitgestaltung. Was hat er Ihnen erzählt?«

Sven seufzt wieder, »das habe ich mir schon gedacht. Er hat zwar immer behauptet, er würde viel tun und sich oft mit Leuten treffen, aber ich habe ihm das nicht ganz abgekauft.«

»Warum hätte er lügen sollen?«

Sven denkt offenbar nach, erst nach einer kurzen Verzögerung kommt die Antwort: »Ich denke, er hat sich mir anpassen wollen. Vielleicht dachte er, es ist komisch, wenn er nichts macht, keine Freunde hat oder hat sich dafür geschämt.«

»Das kann sein. Warum kam es zu keinem Treffen?«, setze ich nach und bin kurz davor, ihn einzuladen. »Ich bin oft auf Geschäftsreise und er tat oft so, als sei er beschäftigt, obwohl es offensichtlich nicht so war. Vermutlich hatte er Angst vor Ablehnung und unseren Kontakt deshalb nur online gehalten.«

»Hätten Sie heute Abend Zeit, aufs Revier zu kommen?«

»Oh, ich bin erst am Freitag wieder in der Heimat.«

»Dann bitte am Freitag. 18 Uhr?«

»Ja, in Ordnung. Hoffentlich wird der Täter bald geschnappt.«

Nach dem Auflegen lehne ich mich nach hinten. Die Suche nach Gesellschaft und gleichzeitig die Angst davor. Simon tut mir leid. Je mehr ich erfahre, desto schwieriger und trauriger wird das Ganze.

 

»Startklar?«, ist Ray wieder zurück. Mühsam erhebe ich mich, ehe ich mein Handy wegpacke, sehe ich noch die Nachricht meiner Schwester: »Wir können Papa morgen abholen - endlich nach Hause!«

Ich schicke schnell ein Daumenhoch-Smiley und folge meinem Partner.

Draußen deute ich Lena an, mir zu folgen und zu dritt steigen wir ins Auto und fahren zu den Eltern des Opfers. Allein die Tatsache, dass sie kein Interesse daran hatten, herzukommen und sie zu identifizieren, sagt viel aus. Eine Freundin bestätigte uns telefonisch das Opfer und schickte uns einige Fotos. Ohne den Fingerabdruck und die Daten im System hätte sie gleich kommen müssen. So reicht es, dass sie etwas später kommt. In der Zwischenzeit schauen wir uns das desinteressierte Elternhaus an.

 

Es ist eine relativ schäbige Wohnung in einem staatlich finanzierten Wohnkomplex.

»Was wollen Sie?«, öffnet uns ein älterer Herr die Türe und sieht dabei unerfreut aus. Aber nicht so, als wäre es etwas völlig Neues oder Absurdes, dass die Polizei vor der Türe steht.

»Mordkommission. Wir hätten ein paar Fragen. Sind Sie der Vater von Tatjana Reichelt?«

Er seufzt, kickt die Tür ganz auf und lässt uns unwillig rein. »Was hat sie angestellt?«, sagt er vorwurfsvoll, aber auch beiläufig. Wir gehen ins Wohnzimmer. Es stellt sich jedoch eher als kleine Kammer heraus, die Platz für eine 3er-Couch, einen kleinen Tisch und den Fernseher bietet. Das Fenster ist verdunkelt und von Ordnung fehlt hier jede Spur. Dreck liegt auf dem Boden, einige leere Flaschen, Teller und Kartons. Er sieht Ray an, dann scheint er zu kapieren, dass zwei Frauen dabei sind und mustert uns dreckig.

»Mordkommission«, wiederhole ich trocken. »Ihre Tochter wurde heute früh tot aufgefunden«, erkläre ich. »Und weiter?«, antwortet er und macht mich völlig sprachlos.

»Wie und weiter?«, setze ich nach.

»Hat sie es endlich geschafft, sich umzubringen? So oft, wie sie damit gedroht hat.«

Ray übernimmt: »Ich glaube, Sie verstehen das falsch. Sie wurde auf brutale Weise ermordet.«

»Wo ist ihre Mutter?«, schiebe ich nach und hoffe hier auf emotionale Beteiligung zu stoßen.

»Ermordet. Interessant«, meint er, lässt sich plump aufs Sofa fallen und nimmt einen großen Schluck von der Bierflasche. »Die Olle ist nicht da. Arbeit, glaub’ ich.«

»Der Typ ist ja herzallerliebst«, denke ich und kotze innerlich im Strahl.

»Wann kommt sie wieder?«, gebe ich dann kalt von mir. 

»Was weiß ich«, fährt er mich desinteressiert an und wendet sich der Mattscheibe zu.

Ray stellt sich vor den Fernseher: »Darf ich um Ihre Mithilfe bitten? Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis, für die Akten.«

Er seufzt, wird wütend, schluckt es jedoch direkt wieder runter und hievt sich hoch. Den Perso zückt er aus einem heruntergekommenen Geldbeutel, dessen Inhalt vermutlich auf nicht viel schließen lässt. »Karl Reichelt«, zeigt mir Ray. 1960 geboren, aus der damaligen DDR.

 

Lena schließt die Türe hinter uns und wir machen uns auf den Weg zum Auto, doch Lena hält an und spricht eine gut gekleidete Dame an, die gerade aus ihrem Wagen steigt.

»Guten Tag, ich hätte kurz ein paar Fragen. Haben Sie kurz Zeit?«

»Ah, aber gerne. Wie kann ich Ihnen helfen?«, entgegnet sie, sichtlich angetan von der höflichen Tonlage.

Lena gibt uns ein Zeichen, damit wir zu ihr kommen, dann stellt sie die erste Frage: »Kennen Sie die Familie Reichelt?«

Die Dame verzieht das Gesicht und nimmt einen etwas gehässigen Ton an: »Die schon wieder. Was haben sie angestellt?«

Ich überlasse ihr das Gespräch und sie fährt nach dem nonverbalen Ok fort: »Nichts. Aber Ihre Tochter wurde heute tot aufgefunden. Ich wüsste gerne, was Sie wissen und was Sie mit ‚angestellt‘ meinen.«

Überraschung blitzt in ihrem Gesicht auf, »ermordet? Tatjana? Sind Sie sich sicher?«

Lena nickt. Plötzlich fängt sie an, auf Russisch zu reden, was bei mir und Ray für Verwirrung sorgt. Wir verstehen beide nichts und beobachten dann die Befragte. Auf einmal wirkt sie wie ausgewechselt und fängt an, ausgiebig zu erzählen und gestikuliert dabei.

Ray und ich mustern beide und werden uns später alles übersetzen lassen. Er nimmt noch die Personalien auf und Lena fängt an zu berichten, was sie erfahren hat.

Es stellt sich heraus, dass die Familie keinen guten Ruf hat, es öfter laut zuging und Streitereien zu hören waren. Dass Tatjana oft spät nach Hause kam und wegen Nichtigkeiten angeschrien wurde. Der Vater ist seit Jahren arbeitslos und die Mutter arbeitet als Reinigungsfachkraft. Sie schleppen sich so mit dem Mindesten über die Runden. Als Tatjana 18 wurde, zog sie sofort aus. Vereinzelt tauchte sie noch auf, aber irgendwann kam sie gar nicht mehr. Das müsste schon mindestens fünf Jahre her sein. 

»Hat sie auch irgendwas über Tatjana erzählt?«, frage ich aufgeregt über dieses ganz andere Setting. Lena überlegt kurz, nickt dann, »Tatjana war öfter bei ihr, sie haben geredet, Tee getrunken und was gegessen. Sie war ein ganz liebes Mädchen und hat nach Aufmerksamkeit der Eltern gelechzt. Aber nie erhalten.«

Kurz darauf ergänzt sie noch: »Sie hat ihr leidgetan und die Kontakte außerhalb waren genauso ungesund und kompliziert wie daheim. Eigentlich hätte sie ein gesundes und stabiles Umfeld gebraucht.«

Ich verziehe das Gesicht und seufze. Das kommt häufig vor, dass die Menschen das anziehen, was sie schon kennen und sich am Ende darin bestätigt sehen.

 

Jeweils gedankenversunken fahren wir wieder zurück ins Revier.