Ansätze


Es ist früh am Morgen und ich bin schon auf dem Weg zum Gefängnis.

Am liebsten würde ich unseren Täter dorthin bringen, aber nein. Wir haben noch nicht einmal eine verdächtige Person. Ich besuche Alexandra und erhoffe mir irgendwas.

Erneut durchlaufe ich die Sicherheitsmaßnahmen und werde betont daran erinnert, dass jeglicher Körperkontakt nicht gestattet ist. Vielleicht bilde ich mir die Betonung auch nur ein und ich habe unseren Chef im Hinterohr, der mir eine Predigt hält. Hätte ich daraufhin den Täter geschnappt, wäre alles halb so schlimm gewesen. Seufz.

 

Die eine Frau, Sozialarbeiterin(?) vom letzten Mal, kommt mir entgegen. Sie sieht mich an, mustert mich nahezu, doch als ich ihren Blick erwidere, wenden sich ihre Augen ganz schnell von mir ab. Trotzdem, irgendwas an diesem Verhalten ist anders. Das Wegsehen ist gleich, aber habe ich da Wut gesehen? Auf der Straße erlebe ich das oft, Menschen sehen weg. Vielleicht aus Schuld oder Scham. Viele haben mal irgendwas gemacht, was nicht ganz korrekt war.

Nur juckt mich das halt meist wenig.

»Waren Sie zufällig gerade bei Frau Kruse?«, spreche ich die Sozialarbeiterin an und bleibe kurz stehen. Sie zuckt zusammen. Offenbar nicht darauf gefasst, dass sie angesprochen wird und hält ebenfalls inne. 

»Ja, war ich und ich finde es nicht gut, dass sie schon wieder hier sind«, wirft sie mir mit einer kräftigen Stimme entgegen, dabei blickt sie mir tief in die Augen. Daher weht der Wind.

Deshalb der Ärger?

»Warum?«, bringe ich hervor, ehe der Wächter mich auffordert, weiterzugehen. 

Ich zögere, warte auf die schuldige Antwort. »Das liegt doch auf der Hand«, fängt sie an, weicht meinem Blick aus und verlagert ihr Gewicht auf das andere Bein. Ihre Arme sind verschränkt und sie will sich schon abwenden und ihren Weg fortsetzen. Doch sie stoppt in der Drehung und ergänzt deutlich leiser: »Sie lenken sie ab.«

Dann geht sie und lässt mich damit zurück. Der Wächter schnalzt und ich spute mich, ihm jetzt zu folgen.

 

Dieses Mal ist Alexandra schon da und ich verspäte mich. Sie grinst breit, als sie mich kommen sieht und möchte schon aufstehen und die Hand strecken. Doch dann pfeift ein anderer Wärter schon und schreit: »Kein Körperkontakt!«

Ich sehe sie entschuldigend an und nehme ihr gegenüber Platz.

»Ich habe gehofft, du würdest wieder kommen. Zur Not hätte ich auch dafür gebetet, aber das wäre dann zu viel des Guten gewesen«, fängt sie an und grinst wieder.

»Das kann ich nachvollziehen«, versuche ich eine Gemeinsamkeit zu knüpfen und ignoriere die persönliche Anrede. Noch ehe es still wird, sagt sie: »Hast du wieder Bilder dabei?«

Ihr Gesichtsausdruck drückt Hoffnung aus und ihre Augen funkeln. »Ja, aber zuvor würde ich gerne reden. Über Kunst.« Ihr Mund öffnet sich, Überraschung, Freude. »Letztes Mal hast du gemeint, dass unser Täter nichts von Menschen hält. Bei dir ist es aber ganz anders, du hast sogar den Kern des Menschen in deinen Bildern erfasst, richtig?«

Sie verfällt in Nostalgie und ich klopfe auf den Tisch.

»Ah, ja. Jedenfalls habe ich das versucht.«

»Warum?«

Schulterzucken. »Es war mir ein Anliegen, den Kern dieses Menschen nach außen zu tragen. Die meisten tun das nicht.«

»Denkst du, unser Täter, hat ebenfalls so eine Aufgabe?«

»Ich kann mich so schlecht an die Fotos erinnern«, lügt sie und sieht weg. Ich verdrehe die Augen, seufze und ziehe Fotos von Tatjana heraus. »Das ist ein Neues«, kommentiere ich und schiebe es rüber. Alexandra zieht scharf die Luft ein. »Großartig. Ein ganz eigener Stil.«

»Und?«, dränge ich auf die Beantwortung meiner Frage.

»Vielleicht?«, haucht sie, wendet ihren Blick nicht von den Fotos. Ich räuspere mich.

»War etwas dabei? Stand irgendwo etwas? Hat das Opfer irgendeine Verbindung zu Mäusen oder Ratten?«, bewirft sie mich mit Fragen. 

»Ja, unser Täter hinterlässt immer eine belehrende Notiz. Die Opfer haben bisher nichts mit den Tieren zu tun.«

»Welche Gemeinsamkeit haben ‚die Opfer‘ denn?«, sagt sie betont und scheint sich darüber bewusst zu werden, dass wir ihr einen oder mehrere vorenthalten haben.

»Die ersten beiden sind involviert in der gleichen Berufsbranche und alle zusammen haben persönliche, psychische Probleme.«

»Es scheint so, als hat die ‚Aufgabe‘ etwas mit der Gemeinsamkeit aller zu tun, die Notizen etwas zur Unterhaltung und die Aufmachung, tja… das passt nicht ganz. Vielleicht gehört das auch zur Aufgabe.« Sie lehnt sich kurz zurück, lässt Stille aufkommen und durchbricht sie wieder, als es unangenehm wurde: »Oder es ist zum Spaß.«

»Mhm, kann sein. Du hast eben gesagt, dass du den Kern des Menschen verbildlichen wolltest, richtig?«, frage ich und speichere das, was sie eben sagte.

»Ja genau.«

»Warum hast du sie umgebracht? Du hättest dieses Bild auch vollbringen können, wenn die Personen gelebt hätten.«

Sie schnaubt, verächtlich, wütend oder traurig? Ich kann es nicht einschätzen. Ihr Unterton gibt mir aber zu verstehen, dass sie diese Frage bereits gehört hat und nicht mag: »Hätte ich nicht.«

Sie macht mit Absicht eine Pause und als ich, wie von ihr gewünscht, nachfragen will, fällt sie mir ins Wort: »Denn dann hätten sie sich verändern können und jetzt, ist mein Bild, die reale Ewigkeit.«

Sie grinst, als hätte sie etwas enthüllt, das niemand vorher wusste oder begreifen konnte.

 

Zurück im Auto, beeile ich mich zurück zum Revier zu kommen, da ich mit Melo bezüglich seines Berichtes reden muss. Am liebsten hätte ich das gestern getan, aber er war schon weg, irgendein Termin. Als mein Handy an ist, blinkt es: Ray.

Ich rufe ihn zurück.

»Sabeth?«, begrüßt er mich. 

»Mhm«, bestätige ich.

»Die Psychiaterin von Tatjana hat sich gemeldet. Sie hat die Mailbox abgehört und möchte helfen.«

»Kann sie denn helfen?«, spreche ich meine Gedanken aus. Scham steigt mir ins Gesicht, das hätte in meinem Kopf bleiben sollen. »Ich weiß es nicht, treffen wir uns dort?«

Ihm ist es nicht aufgefallen, erleichtert atme ich aus und lasse mir die Adresse durchgeben.

»Bis gleich«, verabschiede ich mich und lege auf.

 

Mehrmals muss ich gähnen. Auch wenn die Nacht besser war, als die vorherige, haben mich die Schuldgefühle oder genauer gesagt, die Frage, ob ich Tatjanas Tod hätte verhindern können, am Einschlafen gehindert. Dementsprechend bin ich etwas gerädert aufgestanden, als mein Wecker geklingelt hat.

Inzwischen fahre ich schon auf den Parkplatz der Psychiaterin zu. Ray wartet bereits auf mich und wirkt etwas ungeduldig oder angespannt. Als ich das Auto abgestellt und abgeschlossen habe, gehe ich auf ihn zu. »Hallo«, begrüßt er mich. Ich nicke schwach und grummle etwas. Er vermeidet den Blick. Dann meint er: »Lass uns einen Kaffee trinken gehen.« Nach einer kurzen Pause hängt er an: »Die Psychiaterin meinte, dass sie erst gegen halb 12 zu sprechen sei.«

Ich schaue auf die Uhr meines Handys: 10:27 Uhr.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und mustere Ray. Er zuckt jedoch nur mit den Schultern und erklärt: »Ich fand es besser, wenn wir uns hier treffen.« Ich falle ihm ins Wort: »Aber ich hätte noch mit Melo reden können!« Ray schaut entschuldigend weg und antwortet dann, dass uns eine Pause ganz guttäte und ich ihm ja erzählen könne, was ich bei Alexandra erfahren habe.

 

Überraschung blitzt bei mir auf. Ich soll ihm erzählen, ob ich etwas herausgefunden habe? Er schien bisher nicht sonderlich interessiert an Frau Kruse und meiner Neugier diesbezüglich zu sein. Ich knicke ein und folge ihm zu einem Café. Offensichtlich hat er sich das gut überlegt und so geplant, denn eins ist nicht weit von der Praxis entfernt. Beim Café angekommen, grinst er breit, »ich kenne den Laden, du wirst den Kaffee lieben.«

Seine Stimmung färbt ab und ich bestelle etwas besser gelaunt eine Tasse. Anschließend setzen wir uns. Nach einer kurzen Pause und flüchtigem Smalltalk über Privates, darunter auch meinem Vater, dem es daheim etwas besser geht, kommen wir zurück zum Fall.

Ich fasse ihm zusammen, was ich von Alexandra erfahren habe und er nickt immer wieder. 

Zum Schluss meint er, dass es ein interessanter Gedanke sei, dass die Aufgabe unseres Täters mit den Gemeinsamkeiten aller drei Opfer zusammenhängt. »Darüber muss ich genauer nachdenken«, fügt er hinzu.

Danach verfallen wir wieder in Schweigen und ich überlege, was uns die Psychiaterin Neues berichten könnte. Ehe wir uns versehen, ist es bereits kurz nach 11 und Ray meint: »Komm! Hören wir uns an, was sie zu erzählen hat.«

 

In der lichtdurchfluteten Praxis angekommen, werden wir nach kurzem Warten von der Psychiaterin empfangen. Frau Weichelt ist eine ältere Dame, die eine Statur zwischen normal und kräftig hat. Die braunen, gelockten und schulterlangen Haare zeichnen sich durch graue Stellen aus. Ihre Gesichtszüge strahlen Güte, Geduld, aber auch eine gewisse Strenge oder Bestimmtheit aus. Auch ihre Stimme ist sehr angenehm und wir dürfen sofort vor ihr Platz nehmen.

Sie fällt auch direkt mit der Tür ins Haus: »Es ist so schrecklich, was passiert ist. Tatjana war eine sehr herzliche und offene, kreative junge Frau.«

Wir stimmen ihr zu. Doch ich entgegne gleich: »Was wollten Sie uns erzählen?«

Etwas unbeholfen sieht sie zuerst zur Seite, dann fängt sie an: »Tatsächlich bin ich mir bewusst, dass auch nach dem Tod die Schweigepflicht gilt und ich Ihnen dementsprechend nicht viel sagen darf. Dennoch habe ich erfahren, dass es mehrere Opfer gab, die psychische Probleme hatten oder gehabt haben könnten. Deshalb erscheint es mir vielleicht relevant, ihnen bestmöglich zu helfen, wenn auch nur mit oberflächlichen Informationen.«

»Ähmmm…, von wem haben Sie das gehört?«, werfe ich in den Raum. Aber mir erscheint gedanklich schon ein das Bild der Person, die das gewesen sein könnte.

»Er ist ein Journalist«, gibt sie vorsichtig von sich und bestätigt meine Vermutung. Ich seufze. Woher weiß er schon wieder alles? 

 

»Was können Sie uns über Tatjana erzählen?«, übernimmt Ray. Er hat bestimmt bemerkt, dass mich der Schachzug von Günther Dahle schon wieder ärgert und beschäftigt.

»Stimmt es, dass sie eine diagnostizierte Borderlinerin war?«, fügt er an. Sie nickt, »ja, aber das hatte sie inzwischen sehr gut im Griff. Allgemein ging es ihr in den letzten Monaten sehr gut.«

»Wissen Sie etwas von seltsamen Begegnungen oder allgemein neuen Kontakten?«, fragt er weiter und streift mich mit einem Blick. Ich gebe nonverbal zu verstehen, dass ich zuhöre und mache mit der Hand eine Geste, dass er weitermachen soll.

»Nein. Jedenfalls hat sie nichts dergleichen erzählt. Oft ging es darum, wie sie mit der Persönlichkeitsstörung klarkommt. Das war jedoch stabil.«

»Haben Sie ihr Benzos verschrieben?«, springe ich wieder ein und erinnere mich an den Toxscreen. Sie wird unsicher und überlegt, dann steht sie auf und schaut in den PC. »Ja, das ist aber schon über ein Jahr her. Das war ein Bedarfsmedikament. Für den Fall, dass es ihr besonders schlecht geht oder intensive Selbstverletzende- oder Suizidgedanken auftauchen sollten. Warum?«

»Sie hatte es in Ihrem Blutkreislauf, als sie starb«, gebe ich trocken von mir.

Frau Weichelt ist sichtlich überrascht. »Sie nimmt das schon lange nicht mehr. Wurde ihr das verabreicht?« Ich schnaufe hörbar aus, bemüht nicht verärgert zu klingen, sage ich, dass wir das noch prüfen müssen.