»Ein Mörder treibt in unserem Bezirk sein Unwesen und hat bereits drei Leben genommen. Wir alle fürchten uns, halten uns seit Wochen wachsam, aber nichts passiert.«
Die Sprecherin macht eine dramatische Pause.
»Doch unser heutiger Gast hat ein paar Antworten! Er ist für seine herausragende journalistische Arbeit bekannt. Günther Dahle, kommen Sie bitte?«
Besagter tritt vor die Kamera. Die Live-Aufnahme findet beim ersten Fundort statt: vor der Lagerhalle. »Och, so groß gelobt möchte ich gar nicht werden, ich tue lediglich meine Arbeit«, gibt er sich bescheiden, auch wenn er den Ruhm sichtlich genießt.
»Na offensichtlich ist ihre Arbeit besser als die der Mordkommission.«
»Nicht doch, wir verfolgen einfach andere Strategien«, verteidigt er uns, grinst dabei aber verschmitzt. Ich schlucke meinen Ärger runter. Sie wird ungeduldig und fordert ihn auf zu erzählen, was er nun über den Mörder herausgefunden hat.
»Über den Täter tatsächlich nicht viel«, baut er bewusst Spannung auf, »aber über die Opfer und die Herangehensweise des Täters.«
Ihre Hände fuchteln in der Luft, ihre Geste, damit er jetzt endlich mit der Sprache herausrückt. Er grinst und fängt dann an, seine Wahrheit zu enthüllen: »Alle Opfer haben eine große Gemeinsamkeit. Sie entsteht jedoch aus individuellen Gründen.« Er macht eine Pause. »Das erste Opfer wurde hier gefunden. Sie war eine einsame und perfekt isolierte Seele, die von ihrem Partner überwacht wurde.« Die Augen der Reporterin werden größer. Diese Information war der Öffentlichkeit nicht zugänglich. »Überwacht?«, hakt sie nach und steigt somit voll in sein Spiel ein. »Kontrolliert, überwacht und isoliert - Komplette Kontrolle in der Beziehung. Das passiert weit häufiger in Deutschland, als manche ahnen würden. Es fängt bei geheimen Apps auf den Smartphones an, geht über zu kontinuierlicher Kontrolle der Tätigkeiten und des Standorts.«
»Das ist ja furchtbar, aber was ist die Gemeinsamkeit zu den anderen beiden Opfern?«
Günther spielt bewusst mit seiner Stimme und dessen Lautstärke, denn die ersten Wörter spricht er betont laut aus: »Das zweite Opfer, gerade einmal 19 Jahre alt geworden, litt ebenfalls unter Einsamkeit.« Er stoppt, obwohl ersichtlich ist, dass da noch etwas folgt.
»UND an Mobbing im Arbeitsumfeld.«
Nicht sonderlich geschockt - scheinbar sind ihr die Ausmaße von Mobbing geläufig - bittet sie aufgeregt um die Ähnlichkeit zum dritten Opfer.
Gestört in seiner dramatisch inszenierten Reihenfolge überspielt er seinen Missmut und sagt: »Das dritte Opfer präsentiert uns die Gemeinsamkeit aller auf einem Silbertablett.«
Er macht ein paar Schritte, »sie war schon immer psychisch krank und der chronische Suizidwunsch ist nie verschwunden. Es ist also naheliegend, dass auch sie Probleme hatte und in ihrem Tod den einfachsten Ausweg sah.«
»Moment. Sie wollen doch nicht ernsthaft sagen, dass unser Mörder gezielt Menschen sucht, die sterben wollen?«
»Genau! Das haben Sie gut erkannt. Alle Opfer des aktuellen Serienmörders unseres Bezirks, sind Menschen, die sterben wollten. Menschen, die an Selbstmordgedanken litten und von der richtigen Person erhört wurden.«
Die Reporterin setzt einen strengen Blick auf: »Und woher wollen sie wissen, dass alle drei wirklich sterben wollten und das nicht nur ein Zufall war?«
»Die Psychiaterin des dritten Opfers hat ihre chronische Suizidalität bestätigt. Beim zweiten Opfer konnten wir durch Aussagen ehemaliger Mobbingopfer zum Ergebnis kommen, dass es hier ähnlich sein muss. Auch seine Eltern bestätigten uns seine desinteressierte und wenig emotionale Art, nach genauer Rückfrage bezüglich Symptome einer Depression. Ähnliches beim ersten Opfer.«
»Mutmaßungen - keine Beweise«, grätscht sie hart rein und ich fange an, sie sympathisch zu finden. Er zuckt jedoch mit den Schultern und hebt die Hände: »Die Toten können wir nicht fragen, aber die ortsansässigen Bewohner beruhigen. Es läuft kein Serienmörder in unserem Bezirk herum, der wahllos Menschen tötet und auf perfide Art ausstellt.«
Er macht eine Pause und das Bild wackelt, »es sind nur jene bedroht, die sterben wollen.«
Dann ist das Bild aus, einzelne Szenen sind zu sehen, wie Polizisten durch das Bild laufen, dann wird wieder ins Studio geschaltet.
Diesen Clip habe ich mir jetzt zum zweiten Mal in voller Länge angesehen. Günther wird gerade hergebracht, aber ich weiß nicht, ob mir der Fall noch gehört. Den Trubel um mich herum blende ich aus, ich fühle mich wie in einer großen Blase, die umhüllt von Watte ist. Es wird immer enger und meine Gedanken mutieren zu einer Destruktivität ‚himself‘:
»Ein Wunder, dass du so lange den Fall bearbeiten durftest.«
»Pah! Ein Monat und du hast nichts! - Was hast du bitte erwartet?«
»Selbst ein scheiß-nerviger Journalist ist besser als du.«
»I mean, es ist doch mehr als offensichtlich, dass DAS die Gemeinsamkeit aller ist.«
»Selbst dein Vater will sterben, soll er sich auch beim Täter melden? Gewiss einfacher als auf Sterbehilfe zu hoffen.«
»Du hast wirklich nichts geschafft.«
»Dein erster eigener Fall und voilà: verkackt!«
»Sabeth!«, ruft Ray und ein lauter Knall lässt meine Blase platzen. Ich sehe, wie seine offene Hand auf dem Tisch liegt und noch leicht nachbebt. Mit einem Mal kehrt der Trubel in voller Lautstärke zu mir zurück.
»Ermittler des Landeskriminalamts kommen am Montag, vielleicht schon am Sonntag. Sie wollen mitmischen, nachdem es jetzt viral gegangen ist.« Ich nicke schwach. »Vermutlich ist das besser so«, flüstere ich. Das hört - zum Glück - niemand, weil es zu laut ist. Ray schüttelt den Kopf und packt mich am Arm, zieht mich hoch und fordert mich auf, ihm zu folgen. Ich tapse hinterher, als müsse ich erst lernen, auf dieser komischen Watte zu laufen, dabei habe ich nicht das Gefühl, dass ich richtigen Halt finde.
In meinem Büro angekommen, packt er mich an beiden Armen und sagt mit kräftiger Stimme: »Reiß dich zusammen!« Dann lässt er los und er sieht mir in die Augen. Natürlich ist er auch betroffen, aber er hat so ein Funkeln in den Augen und sein sonst eher männlich-monotoner Gesichtsausdruck sieht gerade spitzbübisch aus. Als hätte er die Züge eines Fuchses angenommen und wäre jetzt umso mehr angestachelt. Das irritiert und motiviert mich gleichermaßen. Den Gedanken, warum ich nicht auf diese Situation so reagiere wie er, schiebe ich gekonnt weg. Ich klatsche mir mit beiden Händen nicht unsanft auf meine Wangen, er nickt leicht. »Was ist jetzt zu tun?«, frage ich, immerhin hat er mehr Erfahrung, meide jedoch den Blick. »Dasselbe, wie wir bisher taten - nur besser.«
Ich schaue ihn unsicher an. »Sollte ich den Fall nicht abgeben?«, hauche ich, doch er schüttelt den Kopf: »Warum denn das?«
Seine Mimik spiegelt Verwirrung und dann Belustigung. »Was ist so witzig?«, werde ich pissig.
»Wach auf, keiner nimmt dir einfach so etwas weg. Du hast gut gearbeitet - wer weiß, ob überhaupt was Wahres dran ist und wie viel sich Günther ausgedacht hat!«
Lena schaut rein, sie grinst, vermutlich hat sie das Ende gehört: »Besagter ist gerade eingetroffen.«
»Wer hätte gedacht, dass ich dich doch noch in diesen Raum kriege?«, starte ich scharf das Gespräch. Er sitzt bereits auf dem Stuhl und grinst. »Elisabeth Growe«, erwidert er. Lediglich meinen Namen, sonst nichts.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, beschieße ich ihn mit meinen Worten. Ray nimmt noch vor mir Platz. Günther schnalzt mit der Zunge, dann macht er einen Zisch-Laut.
»So stelle ich mir schon eher unseren Täter vor«, schießt ein Gedanke in meinen Kopf, der sich für einige Sekunden nicht abschütteln lässt.
Ich ändere meine Fragen und weiche ab von der Sendung: »Wo waren Sie Dienstagmorgen zwischen vier und fünf Uhr?«
Er blickt auf, Überraschung, fragend, irritiert, seine Mundwinkel zucken, er grinst auf einer Seite. »Tsts, was unterstellen Sie mir hier?«, weicht er aus und ich erkenne wieder, dass er mit mir spielen will. Mein fixierter Blick, löst aber eine weitere Antwort aus: »In meinem Bett, neben meiner Frau.«
»Das kann sie selbstverständlich bestätigen, richtig?«
Herr Dahle hebt beide Hände hoch, lässt die Ellenbogen jedoch auf dem Tisch, »sicher doch.«
Mir gehen die Fragen aus, gleichzeitig habe ich so viele, wie soll ich irgendwem irgendwas beweisen?
»Wie kommen Sie zu der Annahme, dass der Mörder sich Menschen aussucht, die einen Suizidwunsch haben?«, führt Ray das Gespräch fort und ich lasse ihn weitermachen.
»Wenn Sie scharf darüber nachdenken, würden Sie auf die gleiche Annahme kommen«, entgegnet er schroff, tangiert mich mit einem flüchtigen Blick und verzieht das Gesicht.
Für ihn ist das alles nur ein Spiel - für unseren Täter ist das kein Spiel. Er ist es nicht.
Er ist es nicht. Liam ist es auch nicht.
Ich habe das Gefühl, dass alle Puzzleteile langsam vor mir liegen, die Notizen, die Aufmachung, das Motiv. Das alles ist unser Täter, jemand, der anderen helfen will.
»Es muss eine Person sein, die aus etwas Grässlichem, wie dem Menschen, etwas Wunderschönes schaffen will«, erinnere ich mich an Alexandras Worte im Gefängnis.
»Es scheint so, als hat die ‚Aufgabe‘ etwas mit der Gemeinsamkeit aller zu tun«, sagte sie beim letzten Treffen und hat recht.
»Sag mal, was halten Sie eigentlich von Menschen, Herr Dahle?«, unterbreche ich die Unterhaltung der beiden, welcher ich nicht gefolgt bin. Absolute Stille tritt ein.
Völlig überrumpelt schaut er mich an, mustert mich, ist sichtlich verwirrt über meine Absicht, antwortet aber, vermutlich mehr aus Irritation, als aus der Laune seines Spiels: »Menschen, na ja. Ich verdiene mit ihnen Geld. Ohne sie geht nichts.«
Was würde unser Täter antworten?
»Was denken Sie über psychische Krankheiten oder gezielt, Menschen, die an Suizid denken?«, konkretisiere ich, um mir ein Bild über seinen Charakterzug zu machen. Er grinst.
Natürlich grinst er. Nun ist er wieder im Spiel involviert und das freut ihn, trotzdem wirkt er ernst: »Psychische Probleme überrennen uns. Depression ist eine Volkskrankheit. Es ist schlimm, wie sehr das die Energie aus den Menschen nimmt und wie schlecht unser Krankensystem ist. Viel zu unterbesetzt. Viel zu beschränkt. Ich würde mir wünschen, dass jeder die Hilfe bekommt, die benötigt wird.«
Nach einer kurzen Pause ergänzt er: »Und nein, ich bin nicht für eine öffentlich zugängliche Suizidmöglichkeit. Sterbehilfe soll vereinfacht werden; ja. Aber nicht, dass jeder mit Problemen sich einfach umbringen kann.«
Ich schaue ihn ernst an, nicke, stehe auf und verlasse den Raum kommentarlos.
Unbeholfen folgt mir Ray und sieht mich draußen fragend an.
»Warum soll ich meine Zeit mit ihm verschwenden? Er ist weder unser Täter, noch weiß er was über die gesuchte Person.«
»Woher willst du das wissen?«, hakt er nach und überlegt.
»Kontrollier’ seine Alibis«, gebe ich flüchtig von mir und gehe dann in eine andere Richtung.
Lena läuft mir entgegen, als ich kurz das Revier verlassen will, um frische Luft zu schnappen.
»Chaos«, sagt sie und ich nicke. »Aber irgendwie hat er recht«, fängt sie ein Gespräch an und ich halte inne, sehe sie an. Sie beschließt, mich zu begleiten, um weiterzureden. »Ich meine mit der Gemeinsamkeit. Der Täter macht es sich einfach. Warum aber diese Kunst, wenn es eigentlich um Sterbehilfe geht?«
Draußen angekommen, lehne ich mich zuerst an die Wand. »Gute Frage.«
Wir hängen beide unsere Gedanken nach, bis ihr offensichtlich wieder etwas einfällt, »ach, ich wollte dich suchen. Ein Sven Ams ist in der Wache erschienen und meinte, er hätte einen Termin mit dir.« Ich klatsche mir mit der Hand auf die Stirn und schaue auf die Uhr: 18:17. Da war was. Dieser Jodel-Typ, der Kontakt zu Simon hatte.
»Ja, heute ist ein komischer Tag«, bestätigt sie mir und verschwindet wieder.