~LB~ = Lena Boyko
»Guten Morgen, Miss Kommissarin«, stichelt Jack und grinst breit. Ich recke ihm die Zunge entgegen, »du bist nur neidisch.« Er winkt lässig ab und kommt zu meinem Platz. »Das konnte ich so finden, lass uns gleich runter zur KriSu (K8) gehen, dort kriegen wir sicher eine Liste der letzten unnatürlichen Todesfälle, die nicht unter Mord fallen.«
Jack seufzt, »schade, dass wir im System keinen Zugriff auf die Daten haben.«
Ich verziehe das Gesicht etwas, dann grinse ich. »Komm, ist doch aufregend, nicht?«
Müde schüttelt er den Kopf, dann erwidert er mein Grinsen, »eigentlich nicht. Aber für dich scheint alles spannend zu sein. Selbst stupide Recherche.«
Ich verlangsame meinen Schritt, »stupide Recherche? Findest du?«
Schnell rudert er zurück, »Nein, nein, alles gut.« Nachdenklich belasse ich es dabei. Jack ist viel im Außendienst, vielleicht ist ihm diese Papierarbeit zu langweilig.
Aber ich muss zugeben, seitdem mich Elisabeth miteinbezogen hat, bin ich hochmotiviert ihr zu helfen. Eigentlich bin ich kein Stubenhocker und lieber auf Streife, aber aktuell finde ich sogar das aufregend. Ich klopfe an die Türe und gehe zielsicher auf Frau Kleinert zu. Des Öfteren hatte ich mit ihr schon das Vergnügen, nicht nur bei den wenigen Suiziden, bei welchen ich involviert war, sondern auch in anderen Fällen und manchmal sind wir uns in den Gängen über den Weg gelaufen.
»Frau Boyko?«, reagiert sie fragend, sichtlich überrascht, dass ich hier bin. Diese Abteilung wurde offensichtlich gestern nicht mehr darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nun beim Mordfall behilflich sein könnten. Das hole ich schnell nach, dabei entgeht mir nicht das freche Grinsen von Jack, der mir dabei zusieht.
»Verstehe«, sagt sie dann. »Ich wusste gar nicht, dass du bei dem Fall mitwirkst«, fügt sie hinzu und ich zucke mit den Schultern. »Ich wurde dem Team zugewiesen, als der erste Mord bekannt wurde und vor einigen Tagen von der Ermittlungsleitung mit separaten Aufgaben betraut.«
Sie grinst, »das freut mich.«
Mich auch.
Sehr sogar.
»Also?«, meldet sich Jack zum ersten Mal. Frau Kleinert verdreht die Augen, so, dass ich es, aber er es nicht sehen kann. »Ich tippe.«
»Alle Suizidfälle von diesem Jahr?«, hakt sie nach. »Letztes Jahr auch«, erklärt Jack und ich überlege. »Bitte auch alle weiteren unnatürlichen Todesfälle während diesem Zeitraum.«
»Alle?«, hält sie inne und sieht mich über ihre Brille hinweg an. »Ja, bitte.«
Sie tippt weiter und dann höre ich den Drucker anlaufen.
Zehn Minuten später sitzen wir auf unseren Plätzen und jeder geht eine Seite der Listen durch.
Alle Fälle, die mit Strangulation enden, markiere ich rot. Da das aber am Ende lediglich zwei sind, habe ich das Gefühl, auf der falschen Spur zu sein.
»Lass uns essen gehen«, steht Jack vor mir und bringt mich aus dem Konzept. »Essen?«
Ich schaue auf die Uhr; tatsächlich, es ist schon fast 13 Uhr. Wo ist die Zeit nur hin?
Im Lokal zehn Häuser weiter ist es zuerst still. Doch irgendwann unterbricht Jack diese Atmosphäre: »Was ist los? Sonst bist du nicht so ruhig.«
»Mich stört was. Nach welchen Menschen suchen wir eigentlich?«
Er lacht, geht aber darauf ein: »Potenzielle Opfer.«
»Hach, ja, eigentlich hast du recht. Es ist so banal. Warum ist es mir nicht gleich aufgefallen!«, antworte ich etwas lauter als beabsichtigt. Im ersten Moment dachte er wohl, ich reagiere ironisch auf seine Aussage, doch als ich aufstehe und das gebrachte Essen sofort wieder einpacken lasse, springt er auf: »Wo willst du denn jetzt hin?«
»Die Liste nach potenziellen Opfern durchgehen«, retourniere ich und grinse. Nach zwei Minuten kommt er mir nach, ebenfalls mit einer Tüte. »Was ist denn jetzt los?«
»Du hast recht, wir suchen nach Menschen, die dem Profil entsprechen. Das sind somit in erster Linie psychisch Kranke, die augenscheinlich durch Selbstmord starben.«
»Jaa?«, fordert er mich auf, weiterzusprechen.
»Aber, das können auch Menschen sein, die isoliert leben oder keine regelmäßige Beziehungspflege betreiben. Alte Menschen, die nich mehr leben wollen, passen rein, sofern sie nicht von ihren Kindern regelmäßig besucht werden.«
Seinem Mund verlässt ein Geräusch, das sich wie ein knackendes ‚Ah‘ anhört.
»Tatjana hatte doch gute Beziehungen, zu Freunden, sicher auch zu Arbeitskollegen.«
»Mag sein. Aber trotzdem, sie lebte allein. Niemand, der ständig da war und hätte etwas bemerken können. Außerdem sind diese Fälle ganz anders, als unser Täter vermutlich anfing.«
Ich öffne die Türe zum Revier und Jack geht rein. Oben angekommen, essen wir still, während ich meine Liste noch einmal durchgehe.
Dieses Mal markiere ich mögliche Opfer mit einem gelben Stift und nehme mir vor, bei den Angehörigen anzurufen.
Das mit dem Anrufen verwerfe ich wieder, samt dem Abfall meines Mittagsessens.
»Ich fahre raus«, sage ich zu Jack und wedle mit meiner Hälfte. »Warum das jetzt?«
Ich grinse, »das sagst du gern, was?«
Er zuckt lässig mit den Schultern, grinst verschmitzt und steht auf, um mir zu folgen, »ich fahre mit.«
»Uuuund, wie viele hast du auf der Liste?«, fange ich ein Gespräch im Auto an.
»Tod durch Strangulation nur einen, aber zwei Todesfälle bei alleinlebenden älteren Menschen. Ein anderer fand sogar im Altenheim statt.«
Ich schaue zu ihm rüber und mustere ihn, »aber das passt doch gar nicht ins Profil?«
»Ja, eh, ich weiß schon. Aber ich weiß nicht. Nenn es polizeiliche Intuition.«
Mein Lachen kann ich mir nicht verkneifen, auch wenn es nich böse gemeint ist, weil ich genau weiß, was er meint, trotzdem wirkt er gekränkt. Wieder ernst, frage ich, wann die Person dort starb. »Das war vor drei Monaten.«
»Warum ist es dir aufgefallen?«, versuche ich dem auf den Grund zu gehen, doch er weicht aus und ich parke bereits bei den ersten Angehörigen auf meiner Liste.
»Wir fahren danach gleich hin. Es ist doch das Altenheim hier in dieser Ecke?«
Er wirkt erleichtert, schüttelt dann den Kopf, »Nea, das auf der anderen Seite.«
Ich gehe meine Liste nochmal durch und schnappe mir seine, »dann als Drittes.«
Beim Aussteigen wird mir kurz schwindelig und ein Ziehen in meinem Bein macht sich bemerkbar. Müde seufze ich. Jack läutet bereits an der Türe und wir entschuldigen uns für die Störung, möchten aber kurz über den verstorbenen Bruder sprechen und bitten um Einlass.
»Das ist über ein Jahr her, was gibt es da zu besprechen?«, wirkt der Mann eher genervt, als hilfsbereit. »Ich mach’ das schon«, taucht seine Frau hinter ihm auf und schiebt ihn weg. Angesäuert, aber erleichtert, sich nicht mit uns befassen zu müssen, stampft er weg, wenn ich es richtig sehe runter, in den Keller.
»Entschuldigen Sie«, fängt sie an, sich zu rechtfertigen, öffnet dann die Türe und führt uns ins Wohnzimmer. Zwei Kinder kommen auf uns zu, halten inne und laufen schnurstracks zur Mutter, »Mama, warum ist die Polizei da?«, fragt das kleine Mädchen und lugt unsicher hoch, dann wieder zu uns. »Wir müssen nur kurz über was ganz Altes reden. Nichts Schlimmes«, erwidere ich freundlich und ihre Angst scheint etwas zu schwinden. Frau Ehrlich schickt dann beide aufs Zimmer, um zu spielen. Das tun sie und uns wird der Platz angeboten.
Ich entschuldige mich und frage, ob ich das Bad benutzen dürfte. Es sollte mir nicht peinlich sein, aber ist es trotzdem. Sie fasst das gar nicht so auf und gibt mir den Weg vor, ich bedanke mich, lächle leicht und verschwinde kurz. Das Ziehen in meinem Bein stört mich und den Druck im Unterleib merke ich jetzt auch umso bewusster. Polizistinnen haben ohne Periodenprobleme schon genug Vorurteile, mit welchen sie kämpfen müssen. Ich seufze, benutze die Toilette, werfe den Abfall in den Eimer, wasche meine Hände und gehe dann wieder raus.
»Entschuldigen Sie nochmal den Umstand«, fange ich an und setze mich neben Jack an den Tisch im Wohnzimmer. »Ihr Kollege hat mich schon aufgeklärt, warum sie hier sind, aber ich verstehe nicht ganz. Mein Bruder hat sich umgebracht, was ist daran unklar?«
Sie wirkt betroffen, aufgelöst, kurz davor zu weinen, dann verzieht sie das Gesicht zu einer Mischung aus Überraschung, Schock und Traurigkeit, »Sie wollen nicht …«, fängt sie an, kann aber nicht weiterreden. »Wurde er umgebracht?«, haucht sie dann.
Ich schüttele den Kopf, »nach aktuellem Stand ist es Selbstmord gewesen. Wir haben lediglich ein paar Fragen über den Umstand und die Methode. Können Sie uns da weiterhelfen?«, sage ich möglichst behutsam und mitfühlend. Dabei greife ich eine ihrer Hände auf den Tisch und drücke sie sanft, nachdem sie das Okay signalisiert hat.
»Er hat sich erhängt. Dazu gab es einen Abschiedsbrief, er schrieb über seinen Herzschmerz und dass er so nicht weiterleben könne.«
»Mhm, er wohnte allein und hat selten Besuch gehabt?«, frage ich weiter und sie nickt. »Besuch weiß ich nicht.«
Der Suizid fand in seiner Wohnung statt, was auch untypisch für unseren Täter wäre. Vermutlich viel zu riskant. »Hätten Sie gedacht, er könnte das?«, stelle ich die nächste Frage, denke aber selbst darüber nach. Woher soll jemand das wissen? Die meisten Angehörigen hätten das nicht erwartet, sofern es nicht bekannt war. Umso überraschter bin ich, als sie antwortet: »Ja, tatsächlich schon. Er war ein sehr empathischer Mensch und die Beziehung war alles für ihn.«
»Wie ging sie zu Ende?«, fragt Jack und ich horche auf. »Verkehrsunfall.«
»Oh, das ist furchtbar. Ich glaube, wir verlassen Sie dann wieder. Sie haben uns sehr weitergeholfen.«
Nach der Verabschiedung sitzen wir wieder im Auto und Jack seufzt.
»Ich weiß gar nicht, wonach wir suchen. Was erhoffen wir uns?«
»Wir suchen nach ‚potenziellen Opfern‘«, erwidere ich und verwende den gleichen Klang wie er heute Mittag. Daraufhin grinst er und ich dann auch.
»Naeh, mal im Ernst. Denkst du, einer der Angehörigen wird uns sagen, dass der Tod völlig überraschend kam und die Person das niemals selbst getan hätte?«
Bevor ich was sage, spricht er weiter: »Selbst wenn, was soll uns das sagen? Viele Angehörige würden Selbstmord nie erwarten und denken, dass da mehr dahinter steckt, allein um mit den selbstauferlegten Schuldgefühlen besser umgehen zu können.«
»Vermutlich hast du recht und jene, die wahrscheinlich wirklich unsere Versuchsopfer des Künstlers waren, werden kaum Angehörige haben, die irgendwas wissen.«
Ich schnalle mich an und starte den Motor. »Wohin jetzt?«
»Zum Altenheim. Vielleicht ist dort etwas anders.«
Dort angekommen, werden wir erst einmal weitergereicht. Von der Rezeption zu einer Kollegin, dann zur Leitung und danach wiederum zur Geschäftsleitung. Doch diese holt dann wieder die Leitung mit den Akten dazu.
»Ja, Samantha Riel ist etwas überraschend verstorben. Sie war nur einen Monat hier, zuvor lebte sie noch in ihrem Haus und wurde dort regelmäßig von Pflegekräften betreut. Eine davon hat sie sogar hier einmal besucht.«
»Okay?«, hinterfrage ich, unwissend, ob das gewöhnlich ist.
»Ist das ungewöhnlich?«, spricht Jack dann meine Gedanken aus und ich muss leicht grinsen.
»Schon, aber wer weiß. Vielleicht haben sie sich gut verstanden.«
»Wann war die Person da?«, hake ich nach. Vielleicht … aber auch nur vielleicht …
»Eine Woche nach ihrem Umzug. Also ganz am Anfang noch.«
»Und wie starb sie?«, versuche ich meinen verlorenen Hoffnungskeim zu verschleiern.
»Uns wurde gesagt, dass sie erstickt ist. Müssten Sie die Daten nicht haben?«
»Natürlich«, greift Jack beschwichtigend ein.
»Können Sie uns bitte mitteilen, wer Samantha Riel besucht hat?«, beharre ich für mich doch darauf, dass das zu ungewöhnlich ist.
Die Leitung wird nervös, blättert in den Unterlagen, spricht noch mit einer Pflegekraft, die dann hinausgeht und andere Unterlagen holt.
»Ah hier. Leider haben wir den Namen nicht, jedoch hat die junge Frau uns gesagt, dass sie bei der Caritas tätig ist.«
»Außerdem war sie beim Umzug auch dabei. Sie hat geholfen, ihre Sachen zu tragen«, fügt die Angestellte hinzu und ich nicke. »An dem Tag trug sie auch die rote Jacke des ambulanten Pflegedienstes.« Etwas enttäuscht darüber, keinen Namen zu haben, nehme ich das so hin. Ist das verwerflich? Offensichtlich kannten sie sich gut und so eine Uniform wirkt immer vertrauenswürdig.
»Können Sie uns noch etwas darüber sagen?«, meine ich und Jack ergänzt: »Wie war sie so? Wie sieht sie aus? Wie ist sie mit Samantha umgegangen?«
Jetzt fühle ich mich wie im Cartoon. Die Geschäftsführung sieht die Leitung an, die sieht wiederum die Angestellte an, welche in die Luft starrt und entweder überlegt oder es nicht weiß.
»Moment«, entschuldigt sie sich und holt ihr Handy raus. Darauf tippt sie und hält es sich dann ans Ohr. Lautsprecher an.
»Hey Mi, sorry, is grad wichtig, du warst doch für Samantha Ried zuständig?«
Zuerst ist ein genervtes Schnaufen zu hören.
»Die eine, die starb, kurz nachdem sie zu uns kam?«
»Ja genau.«
»Was ist mit der? Die war komisch.«
»Ich habe dich gerade auf laut und die Polizei hat ein paar Fragen zu ihrer Besucherin.«
»Zzz… Sag das doch vorher!«, reagiert sie genervt und beschämt.
»Lass mich überlegen. Die sah ganz gut aus, war immer so gut drauf, fast schon übertrieben fröhlich und lebendig. Sie wirkte ganz vertraut mit Frau Ried. Als wärs die Tochter, war sie nich, oder?«
»Nein, stimmt. Das hat mir Samantha mal erzählt, dass sie sich über den Pflegedienst kennen und dann privat öfter was gemacht haben.«
Ich nicke, als sie mich ansieht, damit sie weiß, dass ich zuhöre.
»Hat die das nicht nur so nebenbei gemacht?«, höre ich aus dem Telefon.
»Wie meinst du das?«
»Ich glaub’, die hat mal erzählt, dass sie nicht offiziell da arbeitet, sondern einfach nur helfen wollt.«
»Den Namen kennst du nicht zufällig?«, fragt sie, nachdem ich ‚Name?‘ flüstere.
»Puh… eh… ne, da klingelt nichts. Oder… ich glaub’ Samantha hat sie ‚Lu‘ genannt.«
»Lu?«
»Mhm, ich denk’ schon. Aber sie hat auch nie direkt von ihr erzählt. Immer nur, was sie gemacht haben und wie toll das war.«
»Gesehen hab’ ich sie ja dann noch einmal ganz kurz, als sie zu Besuch kam. Danach war sie nie mehr da und dann …«
»Ja.«
Ich nicke und sie bedankt sich und legt auf.
»Danke sehr. Das war interessant.«
Mit neuen Informationen und vielleicht sogar einem Anhaltspunkt verlassen wir das Altenheim.
Auf zu weiteren potenziellen Opfern!