Kontaktfrage


Die Gemeinsamkeit aller … alle wollten sterben. Mein Vater will auch sterben. Wenn der Mensch es jedoch nicht selber hinkriegt, wer soll da helfen?

Sterbehilfe – Teuer. Sterbehilfe bei sterbenden Menschen – Günstiger. Aber nicht erreichbar, weder für meine Opfer noch für meinen Vater. Aber Sterbehilfe für jene, die sterben wollen, aber laut Ärzten und Co. noch nicht genug probiert haben, um es nicht mehr zu wollen, gibt es nicht. Schon gar nicht im psychischen Bereich. 

 

Ich darf es zwar nicht so rational sehen, aber spielen wir nicht Gott, wenn wir Menschen verbieten wollen, würdevoll zu sterben, aber das Leben auch nicht angenehmer gestalten können?

Warum können die Opfer es selbst nicht durchziehen, warum suchen sie jemanden, der ihnen dabei hilft? Ob es viel mehr Suizide und Tode gibt, wenn das Verfahren einfacher wäre und Betroffene eine anonyme, sichere Lösung hätten, ohne andere zu gefährden und es in einem Rahmen stattfindet, der keine langfristigen Folgen nach sich zieht?

Melinda würde wohl »Ja« schreien. Vermutlich hat sie recht; Selbstmord aufgrund von Trauer, Liebeskummer, Seelenschmerz, usw. erscheint dann wie der beste, einfachste Ausweg und ist so furchtbar radikal. Sollte unsere Gesellschaft und Regierung dann nicht lieber alles dafür tun, dass jene Menschen aufgefangen werden und mit Unterstützung einen gesunden Weg finden, wieder Freude im Leben zu kriegen? 

Stattdessen wird eine Lösung, egal wie man jene bewertet, einfach verboten.

Schulen kaum mit Psychologen unterstützt oder in einem so unmenschlichen Maß, dass sie es hätten gleich lassen können.

Therapieplätze oder eher Kassenplätze begrenzt, sodass die vorhandenen Therapeuten maßlos überfordert und überfüllt sind, dass sich Wartelisten beinahe stapeln und jemand, der heute Hilfe braucht und heute dazu bereit ist, erst in einem Jahr diese erhalten könnte.

 

»Fahren wir?«, unterbricht Ray meine Grübeleien am frühen Montagnachmittag. Ich erhebe mich aus meinem Stuhl und bestätige. Sabrinas Eltern – zurück zum Anfang.

»Guten Tag«, begrüße ich beide und sie bitten uns herein. 

»Es tut mir leid, dass es medial geworden ist«, entschuldigt sich Ray, nachdem wir uns gesetzt hatten.

»Das ist jetzt so«, sieht Herr Beck es pragmatisch. Kurz wird es still, dann fängt sie an, zu erzählen.

»Ich habe seitdem nachgedacht und bin viele Gespräche und Begegnungen durchgegangen. Warum ist es uns nicht aufgefallen?«

»Was ist Ihnen nicht aufgefallen?«, hake ich nach.

»Dass es ihr nicht gut ging und dass Moritz so war. Dass -«, sie fängt an zu weinen. »Es ist vermutlich kein Trost, aber vielleicht wollte sie nicht, dass sie es sehen oder war nicht bereit dazu«, übernimmt Ray wieder den empathischen Part und ich frage nach, was ihnen aufgefallen ist.

»Sie hat schon angedeutet, dass es manchmal nicht so einfach ist und dass die Arbeit stressig sei. Auch hat sie oft auf ihr Handy geschaut, wenn sie ohne Moritz da war«, erzählt ihr Vater.

»Damit sie sofort reagiert, wenn er schreibt?«, möchte ich wissen und die Mutter nickt.

Sie fasst sich wieder: »Einmal war sie ganz aufgeregt, als ihr Handy ausging. Ich mein’, es ist doch nichts dabei, ein paar Stunden nicht erreichbar zu sein – warum hat es sie so gestresst?«

Die Frage war zwar rhetorisch, aber sie ist nicht unberechtigt. Warum hat es sie gestresst? Hat er Druck gemacht? »Haben sie oft gestritten?«, frage ich deshalb.

»Nein, bei uns nicht. Aber es schien so, als hätte er das Sagen. Auch wenn es nicht so wirken sollte.«

»War Sabrina oft und viel an ihrem Smartphone?«, lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung. Ergänzend füge ich hinzu: »Oder allgemein sehr internetaffin?«

»Wer heutzutage nicht?«, antwortet der Vater. Stimmt wohl. »Hat sie sonst noch irgendwas außerhalb der Arbeit und der Beziehung gemacht oder davon erzählt?«

Sie sehen sich an, »wie schon gesagt, wir hatten immer weniger Kontakt. Früher hat sie viel mit ihrer Freundin gemacht. War gern aus und hatte Spaß. Aber davon hat sie nie viel erzählt.«

 

Später folgt dasselbe bei Simons Eltern. »Es tut mir leid, wir hätten nicht mit den Journalisten reden dürfen«, entschuldigt sich Frau Messner, noch ehe wir eingetreten sind. »Schon in Ordnung«, gebe ich klein bei und denke mir: »Wir haben ja auch nicht die richtigen Fragen gestellt.«

»Möchten Sie uns erzählen, was Sie den Journalisten sagten?«

Wir nehmen am Esstisch Platz und sagen nicht ‚Nein‘ zum Kaffee. Nachdem alles gedeckt ist, fängt sie an zu erzählen:

»Wissen Sie, der Herr hat gefragt, ob er oft traurig wirkte oder sich isolierte und hat uns so langsam zum Offensichtlichen geführt; Depressionen. Hinterher ist alles klar.«

»Das ist leider oft so«, bestätige ich. 

Tom Messner wirkt aufgewühlt, »er hat gegen Ende gefragt, ob wir blind seien, warum wir nicht bemerkt haben, dass er so sehr gemobbt wurde. Ich musste ihn dann rauswerfen.«

»Oh, das war eine gute Entscheidung. Sie trifft keine Verantwortung - immerhin hat er darauf geachtet, es ihnen nicht zu zeigen.«

»Das ist leider kein Trost«, entgegnet sie und fängt an zu weinen.

Ich ziehe aus meiner Tasche zwei Blätter, »Simon hat in seinem Block einen Zettel vollgeschmiert. Es hat eine Weile gedauert, bis wir es entziffern konnten. Zuerst dachten wir, es sei nur ein inhaltsloser Zettel – aus Langeweile in der Berufsschule entstanden. Doch inzwischen ist uns klar, dass es aus Verzweiflung und Schmerz entstanden ist.«

Langsam schiebe ich die beiden Papiere über den Tisch. Eines ist unsere Entzifferung, darauf stehen Wörter und Phrasen kreuz und quer, ähnlich wie auf dem Original, nur lesbar:

Müde

will nicht

kann nicht

Umbringen

Mobbing

Waffe

unfähig

warum kann ich

kann ich nicht

lass mich

 

Nachdem wir noch darüber geredet haben, wie Simon wirkte in den letzten Monaten und sich bestätigt, dass es nach Depressionen klingt, wechsle ich das Thema: »Wenn er mit jemanden Kontakt aufnehmen wollen würde, dann vermutlich online, via Smartphone, richtig?«

Sie nickt. »Welches Gerät besaß er?«

»Habt Ihr es immer noch nicht finden können?«, mischt sich Tom ein. 

»Nein«, bestätige ich, »ich glaube nicht, dass wir es finden werden.«

Er nickt langsam, als würde er verstehen, was ich damit sagen will. »Simon hatte ein Honor, welches genau, weiß ich nicht«, antwortet sie.

Wir tauschen uns noch kurz aus und verlassen dann das Haus.

 

»Was denkst du?«, fragt Ray und scheint zu merken, dass irgendwas in mir arbeitet.

»Dass unser Täter Kontakt via Smartphone oder allgemein Internet aufgenommen hat.«

»Wie soll das ablaufen? Hey, willst du sterben, ich helfe dir dabei? - Darauf reagiert doch keiner ernsthaft.«

»Es gab doch die eine Seite in Sabrinas Verlauf. Vielleicht gibt es diese auch bei Tatjana. Vielleicht in der Arbeit?«

Obwohl Tatjana im Marketingbereich tätig war, hatte sie zu Hause keinen modernen Laptop. Nur einen uralten, der nicht einmal mehr die gängigsten Browser unterstützt und fast zehn Minuten zum Hochfahren benötigt. Ihre Freundin sagte uns, dass sie in der Arbeit am PC gearbeitet hat und alles Weitere via Smartphone erledigt hat. Umso blöder.

»Lass uns hinfahren«, meint er und startet den Motor.

»Findest du es nicht seltsam? Abgesehen davon, wie es mit der Kontaktaufnahme abgelaufen ist, woher weiß der Täter, dass sie nur mit dem Handy kommunizieren? Es könnten auch alle Daten im Laptop sein. Und warum wird davon ausgegangen, dass das Smartphone mitgenommen wird?«

»Das ist schon komisch. Vielleicht ist das eine der Bedingungen?«

»Wie meinst du das?«

»Möglich, dass es Regeln gibt. Zum Beispiel, dass alle Daten gelöscht werden müssen, was den zerstörten Laptop bei Simon erklärt und die gelöschten Daten auf Sabrinas Gerät. Außerdem muss das Handy mitgenommen werden.«

»Das mag sein, aber vertraust du auf das Wort von jemanden, der dich verraten kann?«

»Mhmmmm…, wenn ich der festen Überzeugung bin, dass das, was ich tue, richtig ist, ja. Warum soll ich dann den Hilfesuchenden böse Absichten unterstellen? Sie wollen es ja.«

»Sie wollen es. 

Ohne jegliche Zweifel? 

Ängste? 

Warum gab es keinen Abschiedsbrief? 

Haben sie vielleicht doch nicht daran geglaubt?«

»Vielleicht haben sie zu sehr daran geglaubt«, wirft Ray in den Raum und ich verstehe nicht, was er damit meint. Da ich schweige und ihn flüchtig, aber fragend ansehe, erklärt er sich: »Gehen wir einmal in diese Situation rein.« Er fährt rechts zu einem Lidl und parkt, dann wendet er sich mir wieder zu: »Du triffst eine Vereinbarung, dass dich jemand auf deinen Wunsch hin umbringt. Du freust dich darüber, all der Ballast und das Leid finden ein Ende, ohne, dass du dafür selbst Hand anlegen musst. Sicherer als sterben durch die Hand eines anderen geht fast nicht.«

»Na ja. Ich hätte viel zu viel Angst, was die Person mit mir davor oder währenddessen anstellt.«

»Weil du nicht sterben willst. Wenn du aber so am Ende bist, dass dir alles egal ist, dann ist das wie der heilige Grahl - vielleicht denkst du gar nicht an die Konsequenzen. Und da du nicht durch deine Hand stirbst, sondern durch die eines anderen, ist ein Abschiedsbrief nicht nötig.«

»Ein sicherer Tod durch Mord, der nicht wie Selbstmord aussieht. Sie haben also vermutlich absichtlich keinen verfasst?«

»Entweder das oder unbewusst nicht daran gedacht. Sie haben sich einfach nur auf den Weg gemacht, um jemanden zu treffen, der ihnen hilft. Schreibst du einen Abschiedsbrief, wenn du zum Arzt fährst?«

Er schmunzelt und ich muss grinsen, auch wenn das alles nicht so witzig ist. »Du hast wohl recht. Lass uns zur Text-Litup GmbH fahren.«

 

Wider Erwarten, werden wir offen empfangen. Die Firma ist im 5. Stock eines modernen Gebäudes. Die Räume sind lichtdurchflutet, die Atmosphäre angenehm.

»Aber natürlich, hier war ihr Arbeitsplatz«, geleitet uns der Abteilungsleiter zu einem Schreibtisch. Ihrem Platz gegenüber sitzt eine junge Frau, die freundlich, aber auch traurig aussieht. Das Erscheinen der Polizei ruft oft erneut den Verlust in Erinnerung.

»Können Sie?«, frage ich, zeige auf das Gerät und der Herr entsperrt es schnell.

Ich klicke auf Firefox, schaue die Chronik durch, entdecke jedoch nichts, was im Ansatz privat wäre. »Nutzt ihr einen anderen Browser für Privates?«, frage ich die Frau gegenüber. »Edge«, flüstert sie. Der Leiter unterhält sich etwas weiter mit Ray. Ich bedanke mich und widme mich wieder dem Bildschirm. Edge. Chronik. Verlauf. 

Facebook, Youtube, Googlesuchen, Whatsapp-Web, Kochseiten, Bestellseiten, Ebay, psychic, Amazon, irgendwas mit Borderline, usw.

In guter Hoffnung klicke ich auf Whatsapp. Seit dem neuesten Update muss das Handy nicht mehr in der Nähe sein, vielleicht ist es noch verbunden. 

Fehlanzeige. Gerät zum Einloggen nötig. 

Ich seufze. War … psychic.de, war das nicht die gleiche Seite wie bei Sabrina?

 

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An die Leser:

Im nächsten Kapitel folgt ein weiterer Mord, mit oberflächlicher Beschreibung der künstlerischen Ausarbeitung.