~TP~ Meisterwerk


Dienstag 04:05 Uhr.

Ich bereite alles vor, damit ich der nächsten Person helfen kann. Hilfe zur Selbsthilfe oder so. Leise muss ich kichern. Mein Puls steigt und ich werde nervös, freue mich aber.

Wenn alles glattgeht, wird das heute ein Meisterwerk par excellence, vermutlich auf dem Niveau des Igels – nein, sogar besser. Ich befinde mich in einem frisch gebauten Haus, Bungalow. Es ist noch nicht fertig, aber fast. Der Boden wurde noch nicht verlegt und die Fenster sowie Türen fehlen. Mit Ausnahme der Haustüre, was seltsam ist, denn diese ist schon eingebaut, aber wie üblich auf Baustellen ist sie nicht abgeschlossen. Das weiß ich schon seit meiner Kindheit. Mein Bruder und ich sind immer wieder durch frisch gebaute Häuser gestreift und haben uns vorgestellt, wie das irgendwann einmal aussehen könnte. Sie haben die Gebäude erst abgeschlossen, als alle Fenster und Türen eingebaut waren – warum auch immer, immerhin kann nicht viel gestohlen werden.

Ich schüttele meine Nostalgie ab und wende mich wieder der Gegenwart und meiner aktuellen Tätigkeit zu: Ein Seil befestigen.

Praktisch, dass hier neben wenigen Werkzeugen noch eine kleine Trittleiter steht. Das Gebäude ist perfekt. Der Baustand ist genau richtig, denn es gibt schon Löcher an der Decke mit eingesteckten Spreizdübeln für Lampen. Etwas unüblich, wird das nicht normal von den Mietern eingebaut? Egal! In einem schraube ich meinen Haken rein. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich grinse. Die heutige Person ist ein 37-jähriger Mann. Er hat seinen Sohn durch eine Krankheit verloren, dann seinen Job und zu guter Letzt hat sich seine Frau von ihm getrennt. 

Biete etwas Hilfe an, hör zu und schon erzählen sie dir alles im Internet. Er ist es leid zu existieren, sieht nichts mehr in dieser Welt und fällt allen zur Last. Seine Familie hat sich teilweise abgewendet und der Gesellschaft ist er schon lange nicht mehr von Nutzen. Er schrieb, dass er es bereits versucht hat, es aber nicht ging. Je mehr Zeit vergeht, desto dringender will er es, schafft es aber nicht selbst und Ärzte oder Therapeuten waren keine Hilfe.

Als ich es ihm anbot, war er zunächst verwirrt und überfordert. Er glaubte mir nicht. Dachte, ich mache einen furchtbaren Scherz und spiele mit seiner Hoffnung auf Erlösung. Ein paar Tage später schrieb er wieder und ich teilte ihm mit, dass es ganz schnell und möglichst schmerzfrei ginge. Anschließend habe ich ihm die Adresse zukommen lassen. Die Uhrzeit jedoch erst später auf Rückfrage.

Ich stelle immer folgende Anforderungen:

- Alle Daten dieser Unterhaltung müssen vernichtet werden

- Die Login-Daten des Forumsaccounts sollten mitgeteilt werden

- Das Smartphone wird mitgenommen

- Zum Treffpunkt wird zu Fuß und allein gekommen

 

Das Smartphone zerstöre ich, den Account lösche ich, nachdem ich den Chat gelöscht habe und weil ich keine Lust habe, mich um das Fahrzeug zu kümmern, welches in den meisten Fällen besonders auffällt, spare ich mir so diese Arbeit.

Der Bungalow liegt relativ zentral in einem Dorf. Entlang der Straße verläuft ein kleiner Bach in einem mehrere Meter tiefen Graben. Links und rechts des Hauses stehen ältere Einfamilienhäuser, die in Anbetracht der Uhrzeit vollkommen schwarz sind. Rechts vom Haus ist ein Carport aus Holz, der Haupteingang folgt somit über die rechte Seite. Ein paar Häuser weiter ist sogar eine Kiesfirma. Dorffirma. Da gibt es keine Überwachungskameras, das habe ich schon gecheckt. Wenige Straßen weiter ist ein Kindergarten und direkt gegenüber ein Friedhof inklusive Kirche. Makaber irgendwie.

In meinem Kopf entsteht eine Szene, in welcher eine Erzieherin den Kindern sagt, dass sie hier am Anfang ihres Lebens stehen und das Ende auf der anderen Straßenseite wartet.

Der Weg dazwischen stellt sich somit als nur wenige Meter heraus.

 

04:20 Uhr.

Bald sollte er kommen. Das Seil hängt bereits und unten dran, der Henkersknoten. Ich verlasse das Gebäude durch die fehlende Terrassentür im Wohnzimmer. Nun bin ich draußen, auf der Rückseite des Gebäudes.

Das Haus ist so konstruiert, dass man über den Haupteingang in den Flur gelangt und die erste (fehlende) Tür auf der rechten Seite ins Wohnzimmer führt. Das Seil habe ich im rechten Drittel befestigt, so, dass er entweder ins Innere oder zur Wand schaut. Seine Vorgabe ist es, zur Wand zu schauen, damit ich von hinten über den Terrasseneingang zu ihm gelange. Mich zu verstecken gestaltet sich als schwierig, da es möglich ist, dass er durch den Durchgang des Carports in den Garten geht oder raus zur Terrasse und hier eine offene Fläche ist. Ein Versteck im Haus selbst sorgt für ein ähnliches Problem. Ob Sabrina oder Simon, beide haben sich zumindest etwas umgesehen, bevor sie ihre Prüfung erfüllt haben. Lediglich Tatjana hatte es eilig zu sterben und sich wenig aus der Umgebung gemacht. 

Deshalb räume ich auch Andreas diese Möglichkeit oder eher dieses Verhalten ein. Das löst nur nicht mein Versteck-Problem. Ich folge der Carport-Rückseite und entdecke am Ende des Zauns des Nachbarn einen schmalen Weg neben dem großen Bauernfeld. Dort positioniere ich mich geduckt und warte dicht gepresst an der Hecke. Die großen Bäume bieten neben der dichten Hecke einen exzellenten Schutz. Ich bezweifle, dass Andreas so weit in den Garten geht. Oder mich gar gezielt sucht. Immerhin hat er hier ein bestimmtes Ziel und dieses beinhaltet nicht, dass wir uns persönlich kennenlernen.

 

04:40 Uhr.

Ich hole mein Handy heraus und schaue in die temporär installierten Kameras auf beide Wegseiten; niemand. Doch das stresst mich nicht.

Bisher kam niemand pünktlich – vermutlich die Angst.

Eine Stunde plane ich immer ein. Mehr könnte knapp werden, da die Bauarbeiter oder Hausherren um 7:45 Uhr hier sind. Jedenfalls war das die letzten Tage so.

Ich setze mich ins Gras und starre die Sterne an. Ein leichter Wind geht und es ist frisch, aber nicht kalt; mein Pullover reicht völlig aus.

Bevor mich die Langeweile zerfrisst, öffne ich die App Storyban. Da hat sich technisch und featuremäßig in letzter Zeit viel getan. Ich verfolge das oder das Forum nicht so genau und bin nur dort, um zu lesen. Letzten Montag ist ein neues Buch erschienen, das mich aufgrund des ungewöhnlichen Covers im Querformat sofort anfixte. Bisher bin ich nur dazu gekommen, den vielversprechenden Klappentext zu lesen. Die Woche mit Arbeit und Materialbeschaffung war stressig und zeitraubend. 

Gestern gab es noch ein Buch-Update, was es jetzt noch besser macht; gleich zwei Kapitel!

»PX39-61 - Eine andere Welt«, ich klicke auf ‚lesen‘ und tauche kurz in ein anderes Abenteuer ab.

 

05:17 Uhr.

Mein Handy leuchtet auf, da tut sich etwas. Dieses Mal ist es keine Katze, sondern ein Mensch. Ein Mann, ja, er ist es.

Er kommt wirklich. Allein. Im Gegensatz zu mir habe ich schnell Fotos und Infos von ihm im Netz gefunden. Von mir ist dort fast nichts zu finden. Kein Facebook, kein Insta oder sonstige Dating-Apps. Gut, WhatsApp habe ich auch, gezwungenermaßen. 

Leider akzeptiert die Gesellschaft meine Hilfeleistung nicht und ich muss äußerst vorsichtig sein, wenn ich noch weiteren Menschen helfen will.

 

Er geht durch die angelehnte Haustür, wie aufgetragen. Dann schaut er raus und stellt sich auf die Terrasse. Er schüttelt den Kopf, dreht sich um und geht wieder rein. Ich laufe durch den Durchgang des Carports am Haus entlang und um das komplette Haus, damit ich auf der anderen Seite des Terrasseneingangs stehe. So habe ich vermieden, dass er mich durch eines der Fenster kommen sieht und zögert oder gar abbricht. Leise luge ich schräg hinein und sehe, wie er vor der Schlinge steht. »Das ist doch lächerlich«, haucht er, seine Stimme zittert. Wahrscheinlich aus Trauer oder Angst, ich kenne diese Tonlage.

Trotzdem greift er nach dem Juteseil und legt es sich um den Hals.

Keine drei Sekunden später stehe ich hinter ihm. Meine rechte Hand greift seinen Kopf auf der Höhe des Ohrs, die linke an seine linke Schläfe. Ich ziehe seinen Kopf mit einem kraftvollen Ruck nach hinten und drehe ihn blitzschnell nach rechts. Ein scharfes Knacken durchdringt die Luft. Andreas’ Körper erschlafft. Ich halte ihn kurz, angelehnt an meinen Körper, um die Schlinge zu entfernen. Doch ich habe das Gewicht eines erwachsenen und bewusstlosen Mannes unterschätzt. Er entgleitet mir und durch die Schlaufe um seinen Hals, hängt er mit den Knien und Beinen schleifend am Boden. 

Immerhin hält der Haken. Ich muss schmunzeln.

Wenn er davor nicht tot war, dann ist er es jetzt bestimmt.

 

Ich denke über die letzten Nachrichten nach, die Andreas und ich miteinander tauschten. Er fragte, ob er einen Abschiedsbrief schreiben dürfe. Bisher stellte niemand diese Frage. Vermutlich waren die meisten erfreut darüber, dass es kein klassischer Selbstmord sein wird. Es wirkt durch meine Hand wie ein Unfall, welchen sich viele wünschen. Für mich ist Suizid unvorstellbar. Ich mag das Leben, mein Leben, die Möglichkeiten, meine Freunde und meine Familie. Es gibt so viel Tolles zu sehen, zu erleben und ich kann nur lebendig anderen Menschen helfen, auf die ein oder andere Art.

Andreas habe ich es selbst überlassen, das liegt ohnehin nicht in meinem Einflussbereich.

Jetzt, wenn ich ihn auf dem Boden liegen sehe, so ohne Puls und Herzschlag, frage ich mich, ob er einen geschrieben hat und was wohl darin steht. Meine Mutter schrieb einen oder eher Hunderte, unfähig es dann durchzuziehen. Ich sah immer wieder, wie sie am Schreibtisch saß und irgendwas schrieb, das dann zerknüllte und in einen Papierkorb warf. Am Abend schmiss sie dann alles ins Feuer und klagte darüber, dass sie nie etwas Gutes zustande brachte. Es stimmte. Nicht nur einen habe ich heimlich gelesen, als ich älter wurde. Es gibt einfach keine Worte, die gut genug sind, um die Kinder allein zu lassen. Doch mit ihrer toten Lebendigkeit, hat sie uns auch keinen Gefallen getan, wenn nicht gar noch mehr gestraft. Ihr Tod war eine Erlösung für alle, das hat sogar Vater einmal zu Freunden gesagt, als ich hätte im Bett sein sollen und sie zu viel getrunken haben.

 

Ich schüttele die Gedanken weg, packe das Seil samt Haken in meine Tasche, ziehe mir Schuhtüten über und schaue, ob meine Handschuhe sitzen. Passt.

05:32 Uhr.

Es wird Zeit. Ich wende mich dem Erlösten zu. Andreas trägt nur ein T-Shirt und eine Jogginghose. In seiner Hosentasche ist sein Smartphone, welches ich schon über die Kamera sah, da er es in der Hand hielt beim Gehen. Ich entwende es und lege es in meinen Rucksack.

Mithilfe eines neuen, dünnen Cuttermessers öffne ich seinen oberen Bauch. Dabei verwende ich ordentlich Druck, jedoch nicht zu viel, damit ich das Organ nicht beschädige. Da ich nur ein Ziel habe, beachte ich das meiste der Anatomie nicht. Ich kenne mich auch nicht gut genug aus, immerhin geht es nicht um einen medizinischen Eingriff. Es gibt niemanden mehr, der gerettet werden muss. Ich schmunzle, als ich endlich an das Stück gelange. Das ganze Blut ekelt mich etwas an, wie eine warme Suppe, die inzwischen die Rillen des Bodens befüllt und vermutlich bald durchsickert. Da es hier keinen Keller gibt, findet es den Weg zur Erde. Ein schöner Gedanke. Das passt auch zu meinem nächsten Tier, welches die Erde mag. Ich entferne behutsam die Leber aus der unnötigen menschlichen Hülle und lege sie kurz auf seiner Brust ab. Die erste Lage Handschuhe streife ich ab und werfe sie in eine vorbereitete und geöffnete Tüte. Anschließend hole ich meine Stickstoffflasche aus dem Rucksack, um die Leber etwas länger ansehnlich zu halten. Wäre doch schade, würde nur ich dieses Kunstwerk in voller Pracht betrachten können. So ist wenigstens aus seinem Tod etwas Schönes entstanden.

Nachdem das Tier fertig positioniert ist, natürlich in Kombination mit meinem glorreichen Fund im Wald, hole ich das stabile Papier und die Stempel aus der Tasche. Schon faszinierend, wie das damals anfing mit dem Buchdruck. Ganz mühselig, Letter für Letter. Ich tunke einen Stempel in das Blut und drücke ihn behutsam auf dem Papier ab. Das mache ich mit allen, doch dieses Mal will ich die Notiz etwas weiter weg ablegen, halte aber inne, als mir eine viel bessere Idee kommt. Da ist ein Schlitz in meinem Kunstwerk und die Karte kann an der Kante problemlos hineingesteckt werden. Darauf bedacht, dass die Farbe trocken ist und ich nichts darauf beschädige oder zerkratze, teste ich meine Idee. 

Es hält! 

Genial!

Zum ersten Mal ist der interessante Fun Fact Teil meines Meisterwerkes!

 

Ein letztes Mal schaue ich es mir aus guter Entfernung an, ehe ich das Haus spurenfrei verlasse und meine Kameras wieder einsammeln gehe.