Von Pseudo-Grenzen bis zu grenzenlosem Freiraum


Wir sind Menschen und wir leben hart an der Grenze - zu allem.

Ich sitze und überlege, was ich schreiben soll.
Vor kurzem wurde ich zu einem Vortrag eingeladen. Meinen Ersten sogar.
Es geht in Richtung Poetry Slam, aber nicht zwangsläufig. Ich solle das Publikum unterhalten und zum Nachdenken anregen, hieß es. Warum sie gerade mich dazu ausgewählt haben, ist mir ein Rätsel.
Nur weil man gute Texte schreiben kann, heißt es noch lange nicht, dass ich auch einen intellektuell anspruchsvollen und spaßigen Vortrag präsentieren kann. Meistens bin ich froh, wenn mir die passenden Wörter einfallen und ich nicht dreimal von vorne anfangen muss.
Schriftlich kann ich mich hinter dem Geschriebenen verstecken, auf der Bühne würde das wohl etwas komisch aussehen, wenn ich die ganze Zeit hinter meinen Blättern stehe und ablese – ob es okay ist ein A2 Blatt mitzunehmen?

Das ich tatsächlich auch zugesagt habe, zeigt nur wieder, wie grenzwertig wir leben. „Hart am Limit”, würde die Jugend sagen. Also fange ich an und gehe durch die Straßen der Stadt. Irgendwoher muss die zündende Idee ja kommen. Was eignet sich da nicht besser, als der Mensch? Vor allem bei dem tollen Thema: grenzwertig.
„Es bietet ja auch überhaupt keinen großen Interpretationsraum”, flüstere ich und verdrehe die Augen. Ich sehe Menschen durch die Straßen hetzen, von einem Laden in den anderen, von einer Seite zur anderen. Fahrradfahrer, die sich durchschlängeln, Autofahrer, die verzweifelt einen Parkplatz suchen und Kinder, die um eine - vielleicht auch zwei - Kugeln Eis betteln. Apropos, dass wäre eine gute Idee, ich überquere den Marktplatz und bequeme mich an einen Tisch der Eisdiele. Ich will vergessen, dass heute 2020 ist und die letzten Sonnenstrahlen genießen. „Die Logik der Maskenpflicht ist äußerst grenzwertig, nein, es ist lächerlich”, denke ich laut und verwerfe es als Thema. „Viel zu 0815, langweilig”, hänge ich noch dran und sehe mich weiter um. Eventuell baue ich es doch noch ein, ich könnte auch mehrere Sachen einbauen. Langsam bahnt sich eine Idee an und ich notiere mir ein paar Stichpunkte. Nach ungefähr 20 Minuten erhalte ich mein Eis mit vielen Früchten, welchem ich mich sofort widme. Mir wird bewusst, dass ich nur eine Woche habe, bis ich auf der Bühne stehen muss, aber das Gefühl von Stress breitet sich noch nicht in mir aus. Eher frage ich mich, was für Menschen dort sein werden …

Unfassbar, wie schnell die Woche vorbei geht, wenn man es am wenigsten möchte. Nun bin ich schon auf dem Weg zum Auftritt. Meinen Text habe ich dabei, mir ist zum Glück einiges eingefallen und ich habe es so oft gelesen, dass ich es fast auswendig kann. Sofern mir das Lampenfieber nicht meine Gedanken zerstört. Es geht gleich los. Ich darf als Erste anfangen und werde nach einer kurzen Einführungsphase angesagt und soll jetzt (möglichst ohne zu stolpern) die Bühne betreten. Die Bühne ist nicht sonderlich groß und das Publikum ist überschaubar. Vermutlich sind es um die 100 Leute, mehr würden mit dem nötigen Mindestabstand kaum reinpassen. Alle klatschen und jetzt stehe ich da.
„Hallo”, hallt es durch den Raum und es wird leiser. Die Menschen setzen sich wieder und sehen mich erwartungsvoll an.
Ich räuspere mich und denke dann daran, dass ich absolut nichts falsch machen kann. Da es absolut keine Referenz zu möglichen früheren Auftritten gibt und starte, nachdem ich entspannt ausgeatmet habe.
„Für einen kurzen Moment dachte ich daran, den Text einfach 100 x auszudrucken und zu verteilen”, setze ich an und höre innerlich die Grashüpfer zirpen. „Aber dann ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht weiß, ob ihr lesen könnt.” Ein zurückhaltendes Lachen aus vereinzelten Ecken dringt bis zu mir und ich grinse, weil ich das Gefühl habe, schon gewonnen zu haben.

„Das sollte nicht beleidigend sein. Sondern im Gegenteil, ich wahre eure persönlichen Grenzen, euren Stolz - keiner muss lesen. Außer ich.” Kunstpause. „Ich gebe zu, das war ein etwas trockener Start und bitte euch um Verzeihung. Nehmt mich nicht ganz so ernst, aber auch nicht so locker-leicht, wie den Austritt von Großbritannien. Schließlich haben wir hier ein wichtiges Thema: Grenzen - grenzwertig. Und da wir Menschen sind, testen wir gerne Grenzen; von anderen Menschen, von Tieren, von Ländern. Auch der Nachbar bei uns, dessen Zaun immer 5 cm zu nah in unserem Grundstück steht. Vom Ast seines Baumes brauchen wir gar nicht erst anzufangen! Äußerst testfreudig sind wir bei Tieren, die im schlimmsten Fall - also, wenn der Grenz-Belastbarkeitstest abgeschlossen ist - auf dem Grill oder in der Fleischtheke landen. Gleichzeitig ist es verwerflich, wenn irgendwo Menschen sterben oder … sich nicht impfen lassen. Der Mensch zieht unlogische Grenzen, habe ich festgestellt. Während die Einen sich von anderen abgrenzen, grenzen Andere, Andere von Seinesgleichen ab.” Ich warte einen Moment, damit das Gesagte ankommt. „Ganz amüsant finde ich es, wenn Leute doppelmoralisch handeln, quasi Wert auf den Schutz ihrer Daten legen UND in Facebook sind. Ihre Adresse nicht hergeben wollen, weil man ihnen etwas schenken möchte, OBWOHL sie öffentlich im Netz steht. Habt ihr euch selbst einmal gegoogelt?”
Ich schaue langsam durch die Menge, Zustimmung, Ablehnung, ‘weiß nicht’, Kopfschütteln und -nicken. „Genau”, sage ich und warte.
Dann grinse ich und sage ironisch angehaucht: „Das haben wir schon alle getan und sicherlich eine Menge Informationen gefunden. Könnte man die eigenen Daten von Amazon ablesen, ohne diese direkt anfordern zu müssen, wüsste man auch endlich wieder seine Schuhgröße! Oder im [hier bitte eine Wertung einfügen] Fall, dass die Freundin schwanger ist.”

„Aber lasst uns vom durchgekauten Daten-Thema weichen und reden wir über persönliche Grenzen.” Ich mache ein paar Schritte zurück.
„Passt der Abstand jetzt?”, sage ich und grinse übertrieben, dabei sehe ich die erste Reihe an. „Gerade in diesem Jahr war es äußerst wichtig Abstand zu halten. ‘Kein Problem’, dachte ich mir. Vor allem in Deutschland ist man eh nicht so ‘Dicke’ miteinander. Und wahrt oft einen gewissen Sicherheitsabstand.
Während in anderen Ländern ein deutlich näherer und herzlicher Umgang gepflegt wird, sind wir hier recht distanziert und nahezu kalt. Außer natürlich im Bierzelt. Da ist die Hand auf dem Oberschenkel der Frau noch nicht nah genug und ein aufdringliches Verhalten mit der Bitte um Abstand, wird mit Belästigung quittiert. Wenn man nicht alleine ist, auch mit einem Schlag ins Gesicht des Gegenübers. Die viel interessantere Frage ist: wo fängt meine Grenze an und ab wann ist diese überschritten?
Individueller könnte es gar nicht sein, dem Einen ist es schon zu nah, wenn man den aktuellen Mindestabstand unterschreitet - probiert das mal im Geschäft aus, die Blicke sind oft unbezahlbar. Husten ist aber noch weitaus schlimmer!
Einem Anderen ist es nur recht, wenn man auf dessen Füßen steht. Mal abweichend von den körperlichen Grenzen, gibt es auch ein sogenanntes Geistiges ‘zu nah’. Mir ist bewusst, dass sich viele ihrem Smartphone verbundener fühlen, als ihren Freunden oder teilweise auch Partnern - das lassen wir nun aber außer Acht, sonst würden wir den Rahmen sprengen und in Perversionen abtauchen, die nicht für diese Bühne gemacht sind.” Raunen und Gelächter dringt hervor, aber auch Nicken und Zustimmung nehme ich wahr.

„Verbundenheit ist intim und etwas sehr Privates. Kaum einer redet offen darüber, schon gar nicht, wenn etwas unklar ist. Ich finde es immer noch unfassbar, wie viele Menschen sich in Rollen reinquetschen möchten, die es gar nicht bedarf. Die Gesellschaft schafft Grenzen, für unsere Vorstellung, sie gibt uns nahezu ein ‘Richtig und Falsch’ vor. Lächerlich. Es wird zwar schon schleichend einfacher, aber trotzdem lese oder höre ich noch immer von Werten und Vorstellungen in Beziehungen, die ausdrücken, dass etwas Pflicht ist.

Mensch Leute!
‘Treue’ ist keine Pflicht, es ist ein Konstrukt, welches ihr gerne hättet und kommunizieren müsst. ‘Liebe’ ist auch keine Grundlage, von Präsenz und von körperlicher Nähe.
Es ist traurig, wenn Kontakte kaputt gehen, weil nicht miteinander geredet wird.
Genauso schwerwiegend ist es, wenn Menschen wie Objekte behandelt werden und benutzt werden - sofern das nicht so abgesprochen ist.” Ich hänge noch ein „höhö” an, was ein eindeutig zweideutiges Indiz ist, wodurch ich mit Lachen belohnt werde. Nachdem alles wieder etwas ruhiger wird, werde ich auch leiser: „Wer hatte bereits das Gefühl, ein Gegenstand für jemanden zu sein?”
Ein paar heben unsicher die Hand, andere überlegen noch. Ich werde deutlich lauter:
„Ich! Und wer noch nicht wie ein Objekt behandelt wurde, der hat unser Lebensmodell in Deutschland noch nicht durchschaut. Damit ihr besser versteht, was ich meine, beziehe ich mich auf die ‘Objektformel’, welche in Bezug auf eines DER Gesetze steht:

die Menschenwürde.
Das Gesetz soll uns davor schützen, dass wir eine ‘Nummer eines Kollektivs’ werden - interessant. Das Finanzamt hat davon noch nichts gehört. Die Steuer-ID erhalten wir mit unserer Geburt. Indizien für eine Verletzung wären, wenn man sich dem nicht entziehen oder sich nicht wehren kann. Eigentlich haben wir clevere Lösungen. Du musst ja nicht arbeiten und du musst auch nicht eine bestimmte Arbeitsstelle bekleiden, wir haben die freie Wahl. Du kannst auch gar nicht arbeiten. Aber dann lebst du halt unter der Brücke - sinnbildlich gesprochen. Entzieh dich einmal der Steuerpflicht, wehr‘ dich dagegen. Ab heute gehen wir alle einkaufen und sagen:
NEIN, zur Mehrwertsteuer,
NEIN, zur KFZ-Steuer,
NEIN, zur Biersteuer und
JA, zu mehr Bier.
Lehnen wir es ab, dass wir Steuern auf Steuern zahlen - lehnen wir uns automatisch gegen die Finanzierung des Staates auf. Ob das gut geht?“

Ich warte wieder einige Momente, ehe ich fortfahre:
„Na gut, ich habe sehr weit gegriffen und will den Gedanken dahinter nicht schlecht reden. Wenn wir Menschen Objekte sind, dann sind wir ein ‘Ding’, das hat ja auch Vorteile. Immerhin ist man NIE alleine schuld an etwas. Wenn etwas kaputt ist, kann man es austauschen und wenn alles kaputt ist, kann man es wegwerfen. Ist doch voll praktisch!
Aber wirf es bitte dahin, wo es erlaubt ist und wo es schon bezahlt ist - Danke.”

Ich werde wieder leise, weil das Thema schwierig ist und leicht missverstanden werden kann:
„Sobald man unzufrieden ist, heißt es ‘wandere doch aus’. Nun gut, liebe 83 Millionen Menschen, wandern wir alle aus. Wohin nur?
Würde jeder das Handtuch werfen, sobald etwas nicht passt, würden wir noch immer Kühe mit der Hand melken und uns PERSÖNLICH mit Freunden und Bekannten treffen. Zurück zur Länderfrage - welche Grenze überschreiten wir? Österreich? Schweiz? Niederlande?” Ich seufze. „Die Qual der Wahl und irgendwie ist trotzdem Keines besser. Und Keines schlechter. Ich bleibe also. Eigentlich mag ich ja Deutschland. Schöne Landschaften, wundervoll ausgebaute Straßen, überall Netz und Internet, ...”, ich muss mich vor Lachen unterbrechen. Ich wische mir gespielt die Tränen aus den Augen und fahre ernst fort: „… aufgeschlossene Menschen, sofern man gen Norden wandert und eine Menge Ampeln. Aber immerhin haben wir noch freie Geschwindigkeitswahl auf Autobahnen - stellenweise. Ja Deutschland ist auf seine eigenartige Art etwas Besonderes, vor allem die harte Sprache, die Dialekte oder gar der Jugend-Slang.”

„Ey, digga - Nachbar, pack mal das Ding. Ja, dass da, wieder auf deine Seite der Mauer”, ahme ich übertrieben nach. „Grenzenloser Freiraum, allein das Wort ‘Ding’ kann für alles verwendet werden und jeder versteht sofort was gemeint ist. Um nun aber zum Abschluss zu kommen und klar auszudrücken, was ich euch mitgeben will, müssen wir eine Schweigeminute einlegen. Für alle Grenzen, die je gefallen sind und fallen werden. Für jeden Menschen, der unter grenzwertigen Bedingungen lebt und für jedes Tier, das eingesperrt in einem Käfig sitzt.”

Ich verharre wenige Sekunden und werde dann immer lauter:
„Es würde wohl zu lange dauern… Fazit:
Ich finde es grenzwertig, dass von uns verlangt wird zu funktionieren und es keinen Raum für Gefühle gibt, diese somit nahezu abtrainiert werden.
Ich finde es traurig, dass wir als Maschinen angesehen werden - die aus dem gesellschaftlichen System fallen, wenn sie durch das System kaputt gemacht wurden.
Ebenso ist es unfair, dass man in Deutschland nicht sterben darf, wenn man es will - Stichwort: Sterbehilfe.
Dass die Frau dem Mann ein Motorrad verbietet und dieser (vermutlich) als Kompromiss zu einem Dreirad-Motorrad greifen muss. Genau, diese fragwürdigen Dinger mit zwei Reifen vorne!”, ich warte kurz und setze wieder an:
„Ich finde es respektlos, jemanden anhand seiner Äußerlichkeiten, seiner Sexualität, seines Glaubens oder seiner Herkunft zu verurteilen. Das Religionen genau DAS im großen Stil tun, ist eine Macht, die den Rahmen gänzlich sprengt.
Ich finde es verrückt, dass die Geldgeilheit Wunder der Natur zerstört und unser kapitalistisches Denken den sozialen und menschlichen Teil in uns, in den Tod stürzt.
Aber am aller fragwürdigsten finde ich, wie die Veranstalter hier, ein so wichtiges Thema mit so viel Interpretationsraum in den Saal werfen, und uns grenzenlos alleine damit lassen kann.”

Ich wende mich von dem Mikrofon ab, stampfe einmal wütend auf, bedanke mich und verlasse die Bühne.

 

 


21.09.2020 - vielen Dank an www.zuendeln.de für Ihren 26. Münchner KG Wettbewerb mit dem Thema: grenzwertig

 

Es war anstrengend und interessant, und es freut mich, dass mir wieder eine Satire gelungen ist.

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