Der erste Fund


Als mich die Nachricht vor 20 Minuten erreicht hat, konnte ich es kaum glauben. Ich bin inzwischen seit zwei Jahren in dieser Abteilung tätig, aber so eine Meldung habe ich noch nie erhalten. Ich parke meinen schwarzen Firmenwagen auf dem Hof einer frisch gebauten Lagerhalle, drei Kilometer von der Stadt entfernt. Normalerweise herrscht hier eher ruhiges Treiben. Heute jedoch, ist hier sehr viel los. Drei Polizeiwagen, ein Krankenwagen und ein Notarztfahrzeug, sowie ein Kollege, die Presse, einige Bauarbeiter und natürlich die Spurensicherung.

 

Tief einatmen, Augen schließen und langsam ausatmen. 

 

Ich öffne die Türe und Regen prasselt auf mich nieder, die Geräusche werden lauter und die ruhige Stille, die bisher mein Umfeld prägte, ist endgültig verschwunden. Als ich sehe, wie weitere Fahrzeuge auf das Grundstück zufahren, ignoriere ich meinen Partner und gehe direkt zum Bauarbeiter und sage ohne jegliches Mitgefühl: »Rufen sie bitte ihre Kollegen und ihren Chef an und sagen sie ihnen, dass sie heute zu Hause bleiben sollen - oder zumindest diesem Ort fern. Das ist jetzt ein Tatort und noch mehr Menschen kann ich hier nicht gebrauchen!« Er sieht mir in die Augen und sagt nichts, obwohl er gerade eben noch mit einem Polizisten sprach. Ich sehe, dass seine Augen glasig sind. »Haben Sie das Opfer gefunden?«, schlussfolgere ich und ernte ein schwaches Nicken. Trotzdem zögert er und weil ich keine Fragen stelle, sondern zu dem Polizisten sehe, welcher mir zunickt, greift er zu seinem Handy und kontaktiert völlig überfordert seinen Chef. 

 

Ich wende mich von ihm ab und möchte weitergehen, jedoch werde ich an meiner Schulter angetippt. »Ray«, sage ich erschrocken und bleibe stehen.  

»Na endlich. Ich will schon die ganze Zeit mit dir reden und du ignorierst mich«, wirft er mir vor und ich mache ein entschuldigendes Gesicht. »Viel los«, sage ich schwach. Ray nickt und wir gehen zusammen zu den Polizisten, die offenbar schon drin waren. »Elisabeth Growe und das ist mein Partner Ray Garry, können Sie mir schon etwas mitteilen?«, fange ich an und strecke meine Hand aus. Ein schwaches Nicken der Beamtin und der Griff zu meiner Hand vom anderen: »Max Kaiser, wir waren als Erste vor Ort. Aber am besten, Sie gehen selbst hinein«, dabei sieht er zum Eingang der Halle, »und schauen es sich selbst an, ehe es zu spät ist.«

 

Etwas irritiert wende ich mich von den beiden ab, gehe zuerst jedoch ein paar Schritte zurück, um mir ein Bild von dem Ort zu machen. Der mit festem Kies gepflasterte Hof ist so groß wie ein halbes Fußballfeld und die Lagerhalle in etwa genauso lang. Links und rechts sind Felder, die von regionalen Bauern bewirtet werden. Das Haus dürfte ungefähr 20 m breit sein und ist, typisch für die aktuelle Zeit, mit Solarplatten auf dem ganzen Dach sowie mit zwei Reihen auf der Sonnenseite bestückt. Die Paneele sind direkt unter den zahlreichen Fenstern befestigt. Auf der Hofseite gibt es zwei Eingänge, einer ist ungefähr mittig, so breit wie zwei Türen und mittels einer Seitenwand abgeschirmt. Die andere Tür ist eher am Rand, in der Nähe der Straße. An der Front des hellgelben Hauses ist ein großes Eingangstor, an welchem auch die Spurensicherung ihr provisorisches Lager aufgeschlagen hat. Von dieser lasse ich mir auch Folienschuhe und Handschuhe geben, stülpe mir beides über und wage mich endlich hinein.

 

Die Lagerhalle ist frisch gebaut und kurz vor dem Ende. Innen ist alles hell, da beide Längsseiten komplett mit Fenstern versehen sind. Sie sind relativ hoch, weshalb sie sich offenbar nur per Schalter öffnen lassen. Mein Umsehen wird verhindert, als mir der Gestank in die Nase kriecht, ein beißend-süß-saurer Gestank. Was eine Mischung aus Kadaver und angehender Verwesung bedeuten muss. Mein Blick fällt zuerst auf den gut beleuchteten Arbeitstisch und das darauf präsentierte Opfer. Ich gehe direkt darauf zu, dabei sucht mein Blick nach Ray, »was wissen wir?« 

 

Er rümpft die Nase und kommt neben mir, direkt vor der Leiche, zum Stehen. »Sabrina Beck, 29 Jahre alt, derzeit arbeitslos«, fängt er an und hält inne, als ich mich auf das Opfer konzentriere. »Hat …«, setze ich an, weiß aber nicht, wie ich das formulieren soll. »Soll das ein Igel sein?«, spreche ich nun doch fassungslos das aus, was ich glaube zu denken. Was ich glaube, zu sehen. Sabrina liegt vor mir auf diesem Überbleibsel der Bauarbeiten, ihr Schädel ist geöffnet, das Gehirn entnommen und auf ihrem Bauch, mit zahlreichen Knochensplittern bestückt, platziert worden. Die Knochen scheinen aus dem Oberschenkel entnommen worden zu sein, denn dieser ist, natürlich auf der gegenüberliegenden Seite, völlig zerrissen worden. Als wäre ein animalisches Wesen aufgetaucht und hätte beschlossen, sich daran zu bedienen. Kein sauberer Schnitt, es ist eher eine ausgefranste und groß klaffende Wunde. Und der Leerraum, durch den fehlenden Knochen.

 

Die Frau hat einen normalen Körperbau, keine besonderen Merkmale, lange blonde Haare und trägt kaum Schmuck. Bekleidet ist sie mit einer schwarzen Jeans, einem schwarzen T-Shirt und darüber einem dunkelblauen Hoodie. Die Hände wurden so abgelegt, dass sie ihr Gehirn selbst hält. Dabei scheinen ein paar Stacheln ihre Hände zu stechen. »Wie?«, frage ich und sehe zu Ray. »Angeblich soll das Gehirn schockgefroren sein, um es zu erhalten«, beantwortet er mir eine von vielen unausgesprochenen Fragen, die er schon vorher geklärt hat. Ich sehe noch einmal hin und tatsächlich, es scheint kalt zu sein, aber langsam löst sich dieser Film und es wirkt so, als würde es schwitzen. »Das Gehirn wurde vor maximal 1,5 Stunden behandelt«, sagt eine raue Stimme und kommt zu uns ins grelle Licht. Es ist Melo, unser Rechtsmediziner. »Du wagst dich aus deiner Kammer?«, witzelt Ray und stupst ihn am Arm. Er lächelt schwach. Mein Blick lässt Melo fortfahren: »Ich bin mit der Spurensicherung gefahren, weil die Meldung zu absurd klang. Und es ist tatsächlich völlig verrückt.« Dabei sieht er zu der Leiche und verschränkt seine Arme.  

»Das Gehirn wurde entnommen und sofort mit flüssigem Stickstoff besprüht, schätzungsweise sogar von innen damit konserviert, zumindest lässt der noch hart wirkende Kern darauf schließen. Es scheint nicht beabsichtigt zu sein, dass es sehr lange hält. Der Mörder hat damit gerechnet, dass es zeitig gefunden wird.« 

 

»Wie schrecklich. Was ist die Todesursache?«, frage ich. Dieses Mal antwortet Ray stellvertretend: »Genickbruch, die Frost-Behandlung war vermutlich post mortem, genaueres überlassen wir Melo.« Ich nicke schwach. Mir fehlen die Worte. Wer tut das und vor allem warum so?  

Kurz darauf kommen weitere Personen rein und heben die Leiche an, erst jetzt fällt der Zettel auf, der halb unter ihr liegt. Ich greife danach und packe ihn in die Tüte. 

 

 Dann lese ich: 

 Wusstest du, dass man annahm, dass Igel nur maximal 7 Jahre alt werden? 

 Vor kurzem fanden Forscher einen Igel, welcher 16 Jahre alt wurde. 

 Mit meinem Igel breche ich erneut den Rekord.

 

Ray lugt mir über die Schulter, »interessant.« Irritiert schaue ich ihn an, meint er das ernst? »Nein, es wirkt so, als würden wir belehrt werden, ob der Täter einen lehrenden Beruf hat?«, erklärt er sich sofort und ich schaue wieder auf den Zettel. Handgeschrieben sieht das nicht aus und nach gewöhnlicher Farbe auch nicht. Ich halte es näher zum Licht und es sieht dunkelrot aus. Ich gebe es der Spurensicherung und wir verlassen die Halle. 

 

 Drei Menschen stürmen auf den Eingang zu und werden von den Polizisten aufgehalten, »Sie dürfen da nicht rein.«

»Aber es ist unsere Tochter! Sabrina!«, sie weint und hält dabei den Arm eines Mannes. Ein junger Mann ist ebenfalls dabei. Ich will direkt zu ihm gehen, weil er besorgt, aber sehr ruhig wirkt. Zuerst befasse ich mich jedoch mit den angeblichen Eltern. »Ich bin Elisabeth Growe und wurde diesem Fall zugeteilt, mein herzliches Beileid. So schwer es aktuell auch fällt, Sie dürfen erst nach Freigabe der Rechtsmedizin ihre Tochter verabschieden. Während den Untersuchungen ist ein Kontakt nicht gestattet. Ich bitte -« 

»Ich kann das nicht glauben!«, werde ich von der Frau unterbrochen, »ich MUSS sie sehen.«

Der Mann nickt zustimmend, »wer tut unserer Tochter sowas an?«, gibt er schwach von sich. »Das möchte ich ebenfalls dringend herausfinden. Können wir bitte in der Dienststelle weiterreden?« Beinahe hätte ich verraten, dass Sabrina ausgestellt wurde und hätte damit jegliche Datensicherheit ruiniert. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Presse sich um uns geschart hat und darum giert, auch nur einen Funken Information zu erhaschen. Garantiert konnten sie schon Fotos über eines der Fenster schießen. »Wer sind Sie?«, erreiche ich endlich den jungen Mann, welcher unsicher mit den Füßen über den Kies streicht. »Das ist ihr Freund Moritz«, erklärt der ältere Herr, »wir haben ihn gleich kontaktiert, als die Nachricht uns erreicht hat«, fügt die Frau hinzu und ist völlig aufgelöst. Er kommt auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen und sorgt dafür, dass wir ein paar Schritte abweichen, damit uns weniger belauscht werden kann. »Moritz Knud, eigentlich bin ich ihr Ex-Freund. Aber ich -«, er streicht sich durch seine kurzen blonden Haare, »das ist alles so unfassbar.« Ich nicke und lade ihn auch auf das Revier ein, dann schnappe ich mir Ray und wir fahren direkt dorthin.

 

Ich parke mein Auto und wir gehen hinein. Natürlich mache ich mir zuerst eine Tasse Kaffee, danach treffen wir uns in meinem Büro. Auf dem Tisch liegen noch ein paar alte Fälle, die ich mir interessehalber angeschaut habe. Ich klappe alles zu und stapele es auf den dazugehörigen Karton neben dem Tisch. Mein Büro ist relativ klein, es hat ein Doppelfenster, eine Pflanze im Eck - die jedoch kaum von mir gegossen wird -, einige Schränke, wenig Deko und mein Arbeitsbereich inklusive PC. »Sie sind im Besprechungsraum«, erklärt Ray und kommt zu mir. Ich nicke, nippe an meinem Kaffee, lasse die Tasse stehen und folge ihm. Die Personalien wurden überprüft und sie scheinen wirklich die Eltern von Sabrina zu sein. »Hallo Frau und Herr Beck«, fange ich an, »vielen Dank, dass Sie direkt hierhergekommen sind.« Sie sitzen bereits auf den Stühlen. Der Raum ist nicht sonderlich groß, natürlich ist es kein Verhörzimmer, lediglich ein Besprechungszimmer. Ray teilte mir zuvor noch mit, dass Moritz auch da sei. »Was ist mit unserer Tochter?«, konfrontiert nun der Vater, weil ich mir offenbar zu viel Zeit lasse. »Sabrina Beck wurde heute um 6:27 Uhr tot und ausgestellt in der Lagerhalle aufgefunden, die Todeszeit dürfte einige Stunden zuvor gewesen sein. Können Sie mir sagen, wie ihr Verhältnis zu Sabrina war?« 

»Was meinen Sie mit ‘ausgestellt’?«, hinterfragt Herr Beck und sieht verwirrt aus. »Nähere Details möchte und darf ich derzeit nicht nennen, da nur wenige davon wissen, könnte das ein Vorteil sein, den Mörder zu schnappen.«

 »Um Himmelswillen, wer tut unserer Kleinen sowas nur an?!«, mischt die Frau sich ein und wirkt umso aufgelöster. Ich war leider noch nie sonderlich gut im Beruhigen, weshalb Ray exzellent einspringt: »Das möchten wir herausfinden, deshalb würden wir gerne wissen, wie ihr Verhältnis in letzter Zeit war, ob es etwas Auffälliges gab oder ob Sabrina Feinde hatte.« Sie stürzt ihr Gesicht in ihre Hände und stützt sich am Tisch ab, ihr Mann legt einen Arm um sie, wirkt aber eher apathisch. »Unser Verhältnis ist eigentlich gut, nur in letzter Zeit hatten wir wenig Kontakt. Sie hat sich etwas zurückgezogen.«

 »Seit ein paar Monaten ist sie anders, oder?«, reagiert Frau Beck plötzlich aufgeweckt, als würde ihr das erst jetzt so klar werden. »Gibt es einen bestimmten Anlass für Sabrinas zurückgezogene Art? Ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«

 Er schüttelt den Kopf: »Nein, Sabrina ist vor fünf Jahren ausgezogen, nachdem sie die Ausbildung abgeschlossen und eine sichere Stelle gefunden hat. Seitdem haben wir logischerweise nicht mehr so ein intensives Verhältnis. Ein Jahr später, lernte sie Moritz kennen und blühte wieder auf, zumindest hat das für uns so gewirkt.« 

 

Sie nickt: »Ja, als wäre die Energie wieder zurückgekehrt und sie lachte mehr, wirkte allgemein fröhlicher und war auch öfter bei uns. Moritz war ebenfalls dabei.«  

»Hatte Sabrina Probleme jeglicher Art? Finanzielle oder persönliche Schwierigkeiten?«, hakt Ray nach und bietet direkt an, ein Glas Wasser zu bringen. »Gerne«, sagen beide und er wäre beinahe gegangen, hält jedoch inne, als Herr Beck auf seine Frage antwortet, dabei sieht er jedoch mich an: »Uns wäre nichts aufgefallen.« Zur Bestätigung blickt er zu seiner Frau, die ihm zustimmt. Ray verschwindet kurz, weshalb ich die Zeit nutze, um nachzudenken. »Als was war Sabrina beruflich tätig?«, frage ich, als Ray wieder im Raum ist.  

»Sie ist als Steuerberaterin in einer größeren Kanzlei angestellt. Wie heißt die Firma nochmal?«, schaut Frau Beck zu ihrem Mann und überlegt, scheint aber nicht darauf zu kommen. Da es ihm offenbar auch nicht einfällt, sage ich: »Kein Problem, das finden wir heraus.«

 »Laut unseren Dokumenten ist Sabrina seit über einem Monat arbeitslos gemeldet, wissen Sie dazu etwas?«, hänge ich an, wissend, dass sie nichts wissen, da sie es garantiert erwähnt hätten. Meine Vermutung bestätigt sich, als beide mich überrascht ansehen, »Arbeitslos? Sabrina? Nein, das passt nicht. Sind Sie sich sicher?«, reagiert die Mutter irritiert.

»Ja. Wir klären das.«

»Wie war das Verhältnis zu Moritz?«, klinkt sich Ray ein und ich ergänze noch: »Angeblich haben sie sich getrennt.«  

»Haben sie das?«, sagt sie und die zuvor begonnene Überraschung scheint festzufrieren. 

»Zumindest hat er mir das gesagt«, gebe ich leise von mir.  

»Ihre Beziehung schien immer gut zu laufen, sie waren auch schon so lange zusammen. Es wundert mich, dass sie sich getrennt haben«, erklärt uns Frau Beck.  

»Vielleicht passt das mit der Veränderung zusammen, die Sie wahrgenommen haben«, denke ich laut. Nach der Körpersprache der beiden, sind sie sich nicht sicher, verletzt sagt sie: »Offenbar kennen wir sie doch nicht zu gut.«

 

 Nach einigen anderen Floskeln und der Information, wie das jetzt abläuft, verabschieden wir uns von ihnen und ich gönne mir meinen kalten Kaffee im Büro, ehe ich mich Herrn Knud widme.