Simon Messner


Glücklicherweise hat es nicht lange gedauert und ein Herr Schuster von Kraaz GmbH, eine Maurerfirma, hat angerufen und angegeben, dass sein Lehrjunge, Simon Messner, nicht zur Arbeit erschienen ist und es auf die Beschreibung passen würde. Er habe es gerade im Radio gehört und nicht glauben können. Direkt im Anschluss hat er mir die Kontaktdaten seiner Eltern genannt und aufgelegt. Da wir ungefähr ein Dutzend so ähnlicher Anrufe erhalten haben, waren wir erst vorsichtig. Als die Eltern das Fehlen ihres Sohnes bestätigt haben und unwissend das Opfer beschrieben haben, wurden wir hellhörig. Sie kamen auch kurzfristig und durften den Kopf des Opfers sehen. Das genügte auch und sie fingen direkt an bitterlich zu weinen und zu schluchzen.

 

»Was ist passiert?«, fragt die Mutter, Celine Messner. Ich mache zuerst deutlich, dass sie nichts berühren sollen, weil er schon den Leichnam aufdecken wollte und sie machen sofort einen Satz nach hinten. Der wartende und alles-wissen-wollende Blick der beiden brennt auf mir.

»Ihr Sohn wurde im Wald, bei der Hütte getötet und entstellt.«

Ehe Ray mich tadeln kann, füge ich mein herzliches Beileid hinzu. Kurz darauf verlassen wir Melos Reich und als die Zwei so weit sind, treffen wir uns im Besprechungsraum.

 

Beide sind nach wie vor schwer bestürzt, reißen sich jedoch zusammen, obwohl ihre Körper beben und alles in ihnen danach schreit, wegzurennen und zusammenzubrechen. Celine ist eine ansehnliche Frau mit langen braunen Haaren, einem fuchsigen Gesicht sowie einer zierlichen, aber auch robust wirkenden Figur. Tom Messner, der Stiefvater, eingeheiratet vor ca. drei Jahren, wirkt wie ein sehr emotionaler Mensch. Gleichzeitig stellt er einen Fels dar und hält seine Frau. Kontinuierlich überprüft der schlanke, große und schwarzhaarige Mann ihr Befinden auf nonverbale Art und ist sehr aufmerksam und zuvorkommend. Auf eine durchaus positive und angenehme Art. Eine gesunde Beziehung zu sehen, die so harmonisch wirkt, freut mich und es fühlt sich toll an. Vor allem in meinem Beruf.

 

»… Wir können leider noch nicht viele Angaben machen, da die Nachforschungen soeben starten«, endet Ray mit der Einleitung.

»Sag ihnen der Ort etwas? War das ein Rückzugsort von Simon oder allgemein der Familie?«

Ray fügt an: »Kennen Sie die Besitzer der betroffenen Hütte? Sie gehört Klaus Stuart, sagt Ihnen der Name etwas?«

Etwas überrumpelt von den vielen Fragen und den Fotos von der Umgebung, fängt Celine erneut an zu weinen, gibt aber Tom zu verstehen, dass er gerne antworten kann und sie sich bestimmt gleich wieder fängt.

Bewusst habe ich nicht mit Simon als Person angefangen. Da über jemanden zu reden automatisch Erinnerungen wachruft, die in der Assoziationskette schlussendlich bei seinem Tod und dem Verlust landen. Dann wäre eine Unterhaltung nur begrenzt möglich und im schlimmsten Fall, müssten wir sie vertagen. Auch wenn das mehr als verständlich wäre, wäre es nicht dienlich für unsere Ermittlungen.

 

Nach ein paar Stunden sind wir durch und ich habe ein grobes Charakterbild des Opfers. Jedenfalls aus Sicht seiner Eltern. Leider ist es etwas schwach, weil sie seit ein oder zwei Jahren nur noch sporadisch Kontakt hatten. Und das, obwohl sie im gleichen Haus wohnen! Er war nach der Arbeit fast nur in seinem Zimmer und hat gezockt. Am Wochenende dasselbe. Ab und an ist er nachts rausgegangen, sie vermuten, dass er zu Freunden oder einer Freundin ging, auch wenn er es als »Spazieren« deklarierte.

Umso weniger waren sie überrascht, als er heute Morgen nicht beim Frühstück erschien, denn das kam gelegentlich vor. Morgen fahren wir zu der Familie und schauen uns sein Zimmer an. Auf die Frage, ob er ein Handy besitzt, reagierten sie überrascht und verwundert, weil »die heutige Generation doch nie ohne aus dem Haus geht.«

 

»Lass uns zur Firma fahren«, sage ich aus heiterem Himmel und Ray zuckt zusammen. Anschließend blickt er auf, »zur Kraaz GmbH?«, hinterfragt er und dreht leicht mit dem Bürostuhl hin und her. Ich nicke schwach. Er macht ein nachdenkliches Geräusch und steht auf, »dann los!«

Kurz nach 17 Uhr kommen wir dort an. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob noch jemand da sein wird, aber Ray versicherte mir, dass solche Firmen mindestens bis 18 Uhr besetzt sind.

Tatsächlich treffen wir eine Frau an, die uns mitteilt, dass Herr Schuster noch im Büro sei, aber demnächst gehen wird.

Ray klopft an die Türe und ein tiefes, unfreundliches »Herein!« ertönt.

»Was willst du?«, schimpft er unfreundlich, sieht dann erst hoch und entschuldigt sich sofort:

»Oh, es tut mir leid. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Seine Tonlage hat sich um 180 Grad gedreht, der Herr ist zum Schleimhaufen mutiert.

»Wir haben ein paar Fragen zu Simon Messner, Ihrem Azubi«, gebe ich freundlich von mir. Selbst Ray wirft mir einen überraschten Seitenblick zu.

»Aber natürlich, nehmen Sie Platz. Es ist so tragisch, was passiert ist. Wissen Sie, was genau passiert ist?«

Wir setzen uns auf die Stühle vor seinem Bürotisch. 

»Herr Messner wurde ermordet …«, erkläre ich, werde aber sofort von ihm unterbrochen:

»Mord? Oh Gott! Das ist schrecklich!«

»Da können wir Ihnen nur zustimmen«, gibt Ray nickend von sich. 

»Näheres können wir Ihnen jedoch noch nicht mitteilen, deshalb sind wir auch nicht hier.«

Er sieht irritiert aus, »wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich überlege, wie er auf diese Formulierung kommt, die meisten würden die Frage stellen, warum wir dann hier sind. Ehe ich antworte, sehe ich ihn mir genauer an. Seine Statur ist solide, nicht besonders kräftig oder schlank, er wirkt stark, so als würde er ebenfalls im Bau mitarbeiten. Aktuell trägt er ein braunes und etwas angestaubtes Poloshirt sowie eine kurze dunkelgraue Arbeitshose. Sein Schnauzer passt gut zu seinem wohlgeformten Gesicht und ist dunkelbraun. Sein lichtes Haar ist kurz und blond. Ich schätze ihn auf knapp 60 Jahre. 

Offenbar habe ich zu lange gezögert, weshalb Ray übernimmt: »Wir wollten fragen, ob es mit Herrn Messner Probleme gab, wie er gearbeitet hat und was sie uns sonst über ihn oder mögliche Streitereien sagen können.«

Herr Schuster fängt an zu nicken und wendet sich nun endgültig von seinem PC ab. Bis dato hat er immer wieder darauf gesehen. 

»Puh, wie soll ich da anfangen?«, stellt er die rhetorische Frage und lehnt sich nach hinten, dabei wippt der Stuhl auf und ab. »Am besten ehrlich und ungeschönt. Wir benötigen alles, um uns ein richtiges Bild von ihm zu machen.«

Sein Blick springt zu mir und er kneift seine Augen kurz zusammen. Aufmerksam beobachte ich alles, was er tut und versuche mich gedanklich dabei zu bremsen, weil es zu auffällig sein könnte. 

»Simon war ein guter Lehrjunge. Nur etwas träge und kaum selbstbewusst. In der Berufsschule ist er auch schlechter geworden, zumindest verraten das die letzten Noten. Ich kann ihnen aber nur das sagen, was meine Angestellten mir mitteilen. Tatsächlich habe ich bisher nur wenige Male direkt mit ihm zusammengearbeitet und da ist er mir nicht aufgefallen, weil er sich sehr bedeckt im Hintergrund hielt.« 

»Kam er immer pünktlich und wie war das Klima mit den Kollegen?«, hakt Ray weiter nach. Dieses Mal tauschen wir die Rollen, das ist mir recht, weil ich eh nicht glaube, dass er mit mir genauso reden würde. 

Er lehnt sich wieder nach vorne, greift nach der PC-Maus und klickt herum, ehe er antwortet: »Laut Zeiterfassung hat er jeden Arbeitstag pünktlich eingestempelt, außer heute.«

»Okay. Hatte er irgendwelche Probleme mit der Schule oder Kollegen?«, stellt Ray die Frage erneut umformuliert. 

»Wie gesagt, seine Noten sind etwas schlechter geworden. Wie er mit den Lehrern klargekommen ist, weiß ich nicht. Da gibt’s ja immer etwas zu meckern. Jedenfalls war das bei den meisten Azubis so, weshalb ich immer sage: Zieh es durch, dann musst du nicht länger hin.«

 

»Und was ist mit den Mitschülern?«, pfeffere ich nach und bin langsam genervt darüber, ihm alles aus der Nase ziehen zu müssen. 

Er wirft mir einen kurzen, kaum bemerkbar abfälligen, Blick zu, ehe er sich wieder Ray zuwendet und auf meine Frage antwortet: »Keine Ahnung, davon weiß ich nichts.«

»Wie hat er gearbeitet und wie kam er mit den Kollegen oder seinem Ausbilder zurecht? Apropos, geben Sie uns bitte die Kontaktdaten des Ausbilders?«

»Ich bin offizieller Meister, das Ausbilden übernimmt jedoch mein Vorarbeiter, Christian Lester.«

Ray nickt langsam, »können Sie mir seine Telefonnummer geben?«

Der ‚Meister‘ sieht wieder auf seinen PC, klickt herum und notiert dann etwas auf einen Zettel. Diesen übergibt er dann Ray. Seine Hände sehen grob und rau aus. Immerhin tut er scheinbar wirklich was. Und dann folgte das, was ich schon vor fünf Minuten erwartet habe: »Wäre es das? Ich habe noch zu tun und muss jetzt schauen, wie ich einen Azubi ersetze.«

 

»Richtig, die Sterbeurkunde erhalten Sie dann in Kopie für Ihre Akten«, sage ich ungefragt und er sieht mich irritiert, dennoch kalt an. Ich kann verstehen, dass die meisten überfordert sind und nicht wissen, was eigentlich getan werden muss, wenn ein Mitarbeiter stirbt.

Noch dazu ein Auszubildender. 

 

Ich versuche einen gefakt warmen Blick zu senden und bitte noch kurz um die Personalien, ehe ich aufstehe. Nachdem ich die Daten des Ausweises notiert habe, reiche ich den Ausweis zurück. Ray führte derweil noch Smalltalk, bei welchem sich Herr Schuster als äußerst gesprächig herausstellt. »Ja, melden Sie sich gerne, wenn noch etwas sein sollte«, verabschiedet er uns überraschend ehrlich. Vermutlich ist es auch eine falsche Ehrlichkeit.

 

Als wir im Auto sitzen, kann ich kaum meinen Unmut über diesen Menschen zurückhalten. Ray stimmt mir zögernd zu: »Irgendwie ist er schon komisch, ja.«

Von seiner Reaktion bin ich nicht so begeistert, ob er nicht genau hingesehen hat oder spiegele ich gerade seine Ablehnung mir gegenüber wider?

 

Ich fahre zurück zum Revier. Schweigend steigen wir aus, gehen hinein und lassen uns einen Kaffee runter. Der Bericht von Melo ist bereits da und bevor ich ihn aufschlage, warte ich auf meinen Partner. »Der Bericht ist da, komm.« Er stellt seine Tasse mir gegenüber ab und geht um den Tisch, dann schlage ich auf:

 

 

- Simon Messner, 18 Jahre. 

- Adressdaten

- Sterbeort = Auffindungsort

- Sterbezeitraum: 05:30-06:00 Uhr

- Todesursache: Genickbruch

- andere wesentliche Todesursachen: Laparotomie bzw. Stoma und Herausnahme des Dickdarms sowie dessen Durchtrennung.

- Tod durch fremde Hand: ✔

- Todesart: nicht natürlich

 

»Also tatsächlich Genickbruch, erneut«, reagiert Ray darauf, geht zurück zu seinem Kaffee und lässt sich im Stuhl nieder. Er atmet schwer, verständlich. »Dann haben wir einen Mehrfachmord. Und unser Täter hat entweder mit beiden Opfern irgendeine Beziehung oder ist beiden völlig fremd.«

 

Ich blättere um und entdecke den Toxbericht. Hier ist jedoch nichts. »Der Toxbericht ist negativ, er war nüchtern.«

»Mhmmm, also hat Sabrina was getrunken und wurde dann aufgegabelt und umgebracht?«

»Mich lässt der Gedanke nicht los, dass sie selbst dorthin ging, vielleicht eine ausgedehnte Runde oder dort ist bzw. war etwas, dass ihr viel bedeutet hat.«

»Guter Punkt, das kläre ich morgen mit der Familie ab.« Ray gähnt. Es ist zwar erst 19 Uhr, aber ich bin auch furchtbar müde. Der Tag war anstrengend.

»Frag auch die Freundin, Frau Steffen.«

»Good point«, versucht er mit gespielt erhöhter Stimme, seine Müdigkeit zu vertreiben. Ich reiche ihm den Umschlag und er blickt sofort hinein.

»Ich gehe zu Melo.«

 

Ray winkt ab und ich überlege, ob Melo überhaupt da ist, dann frage ich mich, ob er überhaupt ein Privatleben hat und stelle fest, dass ich fast nichts über ihn weiß. Liegt das an mir oder geht es Ray genauso?

Aber so, wie die zwei miteinander reden, scheinen sie sich besser zu kennen. Ich glaube, das wurde mir in der Ausbildung eingebrannt: Wir sind nicht deine Freunde oder Spielkameraden, sondern deine Kollegen und vertrauen einander das Leben an. Also kusch nicht, zögere nicht und handle stets korrekt!

 

Der Streifendienst war hart und nervig. Gar nicht meine Abteilung und die Ausbildungsstation war kühl und oft auch schroff. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass das geschadet hat. Vermutlich lässt sich eine Polizeiausbildung auch nicht mit der eines Maurers vergleichen. 

»Sabeth, hast du nicht Feierabend?«, begrüßt mich Melo mit einem amüsierten Unterton.

»Was ist ‚Feierabend‘ und wie kann ich das essen? Und was ist dann mit dir?«, retourniere ich frech. »Touché.«

»Ich wollte nochmal mit dir reden und den Leichnam sehen.«

»Dachte ich mir. Komm.«

 

Wir gehen um zwei leere und einen beladenen Tisch und bleiben dann vor Simon stehen. Er ist noch aufgedeckt und ich erkenne ein paar Markierungen. 

»Hat er sich gewehrt? Haben wir irgendwelche Spuren?« 

Hoffnung keimt in mir auf, wenn auch nur begrenzt. In Amerika ist das oft der heilige Gral, DNA, Fingerabdrücke. Bei uns in Deutschland ist es zur Bestätigung perfekt, aber zum Finden des Täters meist wertlos. Die wenigsten Bürger sind in unserer Datenbank hinterlegt - zum Glück. Abdrücke und Co. werden nur bei Vergehen und Eintragung in die Akte genommen. Dennoch wäre eine solche Spur oder Beweis viel wert.

»Jein. Ein paar wirken wie ältere Verletzungen, Schürfwunden, hier«, er zeigt auf seinen rechten Handrücken auf Höhe des Knöchels,  »sind zwei Punkte, die aussehen wie die eines Elektroschockers.«

»Wie bitte?«

»Kein starker, vielleicht so ein modifiziertes Spielzeug. Ansonsten wären die Punkte viel größer.«