Die Kraaz GmbH


Beinahe wäre ich durch das Telefon gesprungen und hätte den Anwalt an der Gurgel durch den Hörer gezogen. Heute Morgen bin ich so leicht aufgestanden, fast schon gut gelaunt, erhalte auch das ‚Go!‘ des Staatsanwalts und dann das. Wie sich herausstellt, ist der Anwalt von Herrn Schuster der Firmenanwalt und sein Bruder. Klassiker. Von Strafrecht keine Ahnung, aber jetzt künstlich alles in die Länge ziehen und verkomplizieren.

»Mein Mandant lässt Ihnen die geforderten Unterlagen übermorgen zukommen«, hat er gesagt.

Ich habe daraufhin geantwortet: »Übermorgen? Heute! Ich hole sie persönlich ab, wenn es sein muss.«

Der Herr Anwalt hat daraufhin etwas Unverständliches gegrummelt und nach ganzen 15 Minuten kam ein genervtes: »Na schön! Ich bringe es sofort vorbei.«

»Warum nicht gleich so!«, rufe ich laut in meinem Büro, nachdem ich aufgelegt habe und lasse meine Arme laut krachend auf den Tisch fallen.

 

Sein ‚sofort‘ entpuppte sich zu einem ‚2,5 Stunden später‘.

Als er dann da ist, kräftig, bauchig, kaum mit Haaren versehen, reicht er mir die Unterlagen, zieht sie sofort wieder weg, als ich danach greifen will und grinst blöd.

»Sind wir jetzt im Kindergarten?«, denke ich noch, ehe er sein Verhalten kommentiert.

»Die Kraaz GmbH lehnt alle Anschuldigungen ab und trägt in keinster Weise die Verantwortung am Tod von Herrn Messner. Jegliche Schuldzuweisungen oder Diffamierung Ihrerseits werden von mir dokumentiert und ggf. zur Anzeige gebracht.«

Wut keimt in mir auf, ich schnaube, reagiere aber objektiv betrachtet gelassen: »Zur Kenntnis genommen.«

 

Nachdem er weg war, bin ich zum Sportraum gegangen und habe meinen Ärger, der schlussendlich mir selber gilt, am Boxsack ausgelassen. Nach einer halben Stunde kommt Ray mit den Unterlagen in der Hand rein.

»Was ist los?«, fragt er. Er kennt mich gar nicht so emotional.

»Passen sich Anwälte ihrem Klientel an oder suchen sie sich einfach immer Ihresgleichen?«, stelle ich eine Gegenfrage. Bisher haben Anwälte oft die Haltungen und Einstellungen ihrer Mandanten übernommen. Vielleicht täuscht der Eindruck auch und positive Rechtsdiener bleiben einfach nicht gut im Gedächtnis.

»Ich weiß nicht«, antwortet er auf die rhetorische Frage und schlägt demonstrativ die Unterlagen auf.

»Hast du reingesehen?«, er zeigt auf den wackelnden Boxsack, »bevor du das arme Säckchen weichgekloppt hast?«

Ich schüttele meinen Kopf. 

»Eine Angestellte hat vor einem halben Jahr gekündigt.«

»Angestellte?«, hinterfrage ich, auch wenn ich weiß, dass Frauen im Bau arbeiten können, ist es dennoch seltener und dann auch noch bei diesem Unternehmen.

»Hast du?«, setze ich an.

»Sie kommt in 30 Minuten«, beendet er den Satz mit der Antwort.

Ich tape meine Hände ab und springe schnell unter die Dusche. Oben angekommen, erwartet mich ein ‚Kaffee à la Ray‘.

 

»Jessica Dinter, ich wurde gebeten herzukommen, wegen eines Falls«, spricht eine attraktiv wirkende Frau unseren Kollegen am Pult an. Sie hat lange blonde Haare, ist tätowiert, ihr Körper ist normal gebaut, eher muskulös und ihre Stimme ist durchaus angenehm. 

»Ich denke, Sie können mir folgen, nachdem wir die Personalien aufgenommen haben«, entgegne ich freundlich. Ich bin gerade hereingekommen, scheinbar genau zur richtigen Zeit.

»Hallo Frau Dinter, schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Sie waren bei der Kraaz GmbH angestellt?«, starte ich, als wir drei uns im Besprechungsraum hingesetzt haben.

 

»Ja, das stimmt. Ich war bis vor einem halben Jahr bei der Kraaz GmbH angestellt.«

»Können Sie uns etwas mehr erzählen? Wie lange waren Sie dort und wie war das Arbeitsklima?«

 »Um was geht es hier genau?«, wird sie plötzlich vorsichtig und ich sehe Ray an, nicht wissend, mit welchem Grund er sie hierher bestellt hat. 

Dieser räuspert sich und klärt sie auf:  »Ein Ex-Kollege, bzw. der Azubi Simon Messner wurde am Dienstagmittag tot aufgefunden. Es war Mord. Die Kraaz GmbH hat bisher nichts damit zu tun und er fand auch nicht während der Arbeitszeit oder auf dessen Gelände statt, aber uns ist das komische Klima aufgefallen und wir versuchen derzeit zu ergründen, was in Simons Leben los war.«

Ich sehe wieder zu ihr und aus ihrem Gesicht weicht die Farbe. Treffender hätte ich Rays Worte nicht formulieren können. 

 »Simon ist tot?!«, hakt sie nach.

Bestätigend nicke ich,  »korrekt, kannten Sie ihn gut?«

Sie schüttelt den Kopf,  »ich war nur drei oder vier Monate bei der Firma, das hat mir auch gereicht. Simon habe ich als sehr intelligent, aufmerksam und zuvorkommend kennengelernt. Er war ein guter und ehrlicher Azubi. Stets dahinter.«

Sie wird traurig, hält sich die Hände vors Gesicht.  »Was, wenn ich ihm hätte helfen können?«

Ein großes Fragezeichen taucht in meinen Gedanken auf,  »wobei denn helfen? Wie gesagt, es war Mord.«

 »Das Klima der Firma ist sehr rau. Sie suchen sich immer jemanden, um ihn für Drecksarbeiten einzuspannen. Dabei vermeiden sie es nicht, sich einen ‚Spaß‘ auf Kosten der Person zu erlauben.«

 »Was meinen Sie damit genau?«, will ich wissen und das Gefühl von Freude kriecht auf, endlich Aussagen zu haben, die das bestätigen, was ich schon länger ahne!

 »Als ich anfing, war alles noch normal. Klar, ich wurde belächelt, als Frau auf dem Bau. Aber das ist normal. Nach einer Woche kamen dann auch grobe Witze à la, dass ich hinter den Herd gehöre, wenn ich schon nichts tragen kann. Das habe ich ignoriert, Simon hat mir auch unter anderem geholfen. Aber nicht nur er, auch andere, die aber eher noch sexistischere Aussagen gebracht haben und nur in meiner Nähe waren, um meinen Arsch anzuschauen oder mir in den Ausschnitt zu glotzen.«

Ich mache eine Geste, damit sie fortfährt.

 »Nach ein paar Monaten fingen einige sogar an, mich anzufassen. Angeblich immer aus Versehen. Die Leitung hat das abgetan. Ich habe schon mitgekriegt, dass sie Simon gemobbt haben, aber um ehrlich zu sein, war ich mit den Dingen beschäftigt, die sie bei mir taten. Wobei …«, sie überlegt.  »Das war vermutlich alles noch harmlos im Verhältnis. Einmal, sofern ich mich richtig erinnere, haben sie Simons Schuhe einbetoniert. In einen Eimer. Seine Freizeitschuhe.«

Meine Augen werden größer, bitte was?

 »Von wem sprechen Sie genau? Waren das mehrere Kollegen?«, fragt Ray.

Sie nickt,  »fast alle.«

 »Mit ‚Leitung‘ meinen Sie Christian Lester?«, setze ich nach. Erneut nickt sie.

 »Was können Sie uns noch erzählen, was mit Simon passiert ist?«

Ihr Blick schweift ab, dann erzählt sie weiter:  »Ich kann mich nicht erinnern, dass er je Essen dabei hatte. Als die anderen Mittag gemacht haben, hat er nur etwas getrunken. Und das meist vom Wasser der Baustelle. Nicht einmal eine Flasche hatte er dabei. Ich habe ihn mal gefragt, ob er denn keinen Hunger habe und er hat es einfach verneint. Als ich bei einem anderen Kollegen nachgefragt habe, der sich nicht aktiv am Mobbing beteiligte, erzählte er, dass sie ihm damals das Essen immer gestohlen hatten. Genauso das Geld. Getränke haben sie immer getrunken, weggekippt oder durch irgendwas anderes ersetzt.«

Gegen Ende verzieht sie angewidert das Gesicht.

 »Nicht selten musste er Dinge holen, die es nicht gab, was zwar als Running Gag unter Handwerkern gilt, aber in diesem Fall war allen bekannt, dass es das nicht gibt und auch Simon wusste das, aber sie haben ihn trotzdem immer wieder weggeschickt. Er solle das holen und als er ohne etwas kam, haben sie ihn angeschnauzt oder ausgelacht.«

 »Das klingt grauenhaft.«

 »Ja, dabei war das vermutlich nur der Alltagswitz bei ihnen. Ich versteh’ gar nicht, warum Simon sie weder angezeigt hat, noch gegangen ist.«

 »Das ist eine gute Frage. Wissen Sie vielleicht, ob es einen ‚Auslöser‘ gab, dass er das Opfer wurde? Auch wenn es oft nichts Bestimmtes ist bei Mobbingopfern.«

 »Ich habe viel später angefangen. Das kann ich leider nicht sagen. Fragen Sie am besten Bernd Miller. Er arbeitet dort schon länger und ist der besagte Kollege, der sich nicht daran beteiligte.«

Ray notiert sich den Namen und nickt mir kurz zu.

 »Was hat Christian Lester für eine Rolle gespielt in dem Ganzen?«

Bisher habe ich ihn als eher freundlich wahrgenommen, wobei die Wegseh-Regel in der Branche bestimmt einen großen Stellenwert hat.

 »Christian? Er war vorn dabei. Meist hat er ihn ‚bestraft‘, als er etwas nicht brachte, was es nicht gab. Auch hat er andere auf weitere Ideen gebracht. Nicht selten konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, wie sie an der Leiter gewackelt haben, als er darauf stand. Oder sie gänzlich weggestellt haben, als er oben war.«

 »Was war, wenn sie in der Nähe waren?«, stelle ich die Frage zwischen den Zeilen.

Sie zieht mit einer Mischung aus Ironie und Verachtung einen Mundwinkel kurz hoch:  »Ha, dann war natürlich nichts. Vor mir haben sie den Schein gewahrt. Zumindest was über Mobbing als Alltagswitz hinausging.«

 

Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen oder gar denken soll. Im Grunde überrascht es mich nicht. Mich würde es auch nicht überraschen, wenn der Kollege Bernd Miller uns gar nichts sagen würde. Dass Herr Lester aber Drahtzieher des Mobbings ist, das überrascht mich doch.

 »Einmal, da war gerade Feierabend und wir sind zu den Spinden gegangen, auf meinem war ein Dildo geklebt, darüber stand: Lutsch mich, dann gehe ich auf.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. 

 »Ja. Primitiv. Der Spind war zugeschraubt. Und alle Räume mit Werkzeugen bewusst abgesperrt. Ich habe aber immer etwas bei mir, weshalb es nicht so tragisch war. Viel schlimmer war es bei Simon, dessen Spind an dem Tag verputzt und wie wir dann feststellten, zugeklebt war. Da hilft auch kein Schraubenzieher. Darin befand sich jedoch sein Schulmaterial, welches er am nächsten Tag benötigte und sein Hausschlüssel sowie andere Dinge, die er brauchte.«

Schwer atme ich aus. »Warum haben Sie sie nicht angezeigt?«

Sie lehnt sich zurück, starrt erst ins Leere, dann scheinen meine Worte sie erreicht zu haben und sie gestikuliert mit den Händen zur Antwort: »Anzeige? Wegen was? Sexuelle Belästigung? Das hätte die Firma abgestritten. Dann wäre es meine Aussage, gegen zig gegenteilige gewesen. Meine privaten Gegenstände haben sie nicht angerührt. Der Spind gehörte der Firma selbst. Ich tat das bestmögliche: Ich suchte das Weite.«

 »Haben Sie mit Simon noch anderweitig Kontakt gehabt oder irgendwas besprochen, wenn Sie all das gesehen haben?«

Ich sehe, wie ihr das Gesicht entgleist. Offenbar habe ich einen wunden Punkt erwischt. Ihre Mimik drückt schlechtes Gewissen und Schuld aus.

 »Nein«, bestätigt sie schwach.

 »Warum nicht?«, entgegne ich mehr aus Trotz, als in Erwartung einer ernsten Antwort.

 »Ich war froh, nicht mehr daran zu denken und habe auch ein viel besseres Angebot bei einem anderen Unternehmen erhalten. Ich nicke schwach, das sorgt nicht dafür, dass sie sich besser fühlt. Aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Und auch nicht die von Ray, welcher gerade fragt, ob er etwas zum Trinken anbieten kann. 

Dennoch sage ich, nachdem sie abgelehnt hat:  »Sie haben keine Schuld an seinem Tod.«

 »Das mag vielleicht sein, aber ich habe ihm auch nicht geholfen und sein Leben nicht besser gemacht.«

Dazu kann ich nichts sagen und will es auch nicht.

 »Können Sie sich vorstellen, dass eine Person aus der Kraaz GmbH für seinen Tod verantwortlich ist?«, bitte ich um eine Einschätzung und wechsle somit das Thema.

Jessica scheint aktiv und ehrlich darüber nachzudenken, es dauert auch mindestens eine Minute bis sie sagt: »Tatsächlich nicht. Das waren zwar immer große Sprücheklopfer, aber fast alles Feiglinge. Ich denke, einige der anderen Azubis wären daran zerbrochen, hätte man mit ihnen das getan. Deshalb waren sie umso mehr dabei auszuteilen … wie es eben oft so ist.«

 

Ich bestätige das, dann reden wir noch kurz über ihre derzeitige Stelle und dass es dort ganz anders ist. Sie verabschiedet sich und geht wieder zurück zu ihrer Arbeit. Lustigerweise ist die aktuelle Baustelle nicht sonderlich weit von hier, weshalb sie auch so schnell da war. 

Das sorgt wiederum dafür, dass ich darüber nachdenke, welchen Job unser Täter ausübt. Vielleicht auch auf dem Bau?