Fakten und Daten


Mir ist völlig entfallen, dass Simon Brandmale eines Elektroschockers auf der Hand hatte. Melo sagte zwar, dass sie nichts mit dem Tod zu tun haben und schon älter sind, aber ich hätte Jessica danach fragen können.

 

Am Morgen mache ich genau das und klingele durch.

»Jaah?«, antwortet diese. 

»Polizei, Elisabeth Growe hier, wir haben gestern im Revier geredet. Ich hätte noch kurz zwei Fragen, haben Sie kurz Zeit?«

»Telefonisch?«, hinterfragt sie unsicher.

»Ja, das geht auch so.«

Sie macht ein zustimmendes Geräusch und ich frage:

»Wissen Sie etwas von einem Elektroschocker, welcher bei Simon verwendet wurde?«

»Elektro - was? Nein. Mir wäre nichts dergleichen aufgefallen.«

»Okay. Wären Sie bereit, vor Gericht gegen die Kraaz GmbH auszusagen, sofern es dazu kommt? Natürlich müssen Sie über jedes Gespräch, das wir bisher geführt haben, Stillschweigen bewahren«, platziere ich die zweite Frage.

Zuerst höre ich nichts, sie scheint zu überlegen, dann klingt es positiv: »Ja, wäre ich. Selbstverständlich.«

»Das war's auch schon, vielen Dank für die schnelle Auskunft.«

 

Der nächste Anruf geht an den Anwalt der Kraaz GmbH.

»Guten Tag, Herr Schuster«, nimmt er ab und ich möchte am liebsten sofort auflegen.

»Hallo Herr Schuster, hier ist Elisabeth Growe von -«, setze ich an, werde jedoch harsch unterbrochen: »Ja-ja, was wollen Sie?«

»Ich möchte Christian Lester bitte vorladen. Wir haben neue Erkenntnisse erlangt und würden eine persönliche Besprechung hier im Revier bevorzugen. Benötigen Sie ein offizielles Vorladungsschreiben oder kriegen wir das auch unbürokratisch hin?«

Er schnaubt schon, dann grummelt er etwas, was ich nicht verstehe: »... bespreche das mit Herrn Lester und melde mich wieder.«

»Es wäre sehr eilig«, sage ich noch, dann wurde schon aufgelegt.

 

»Du bist schon hier?«, schaut Ray in mein Büro. Er sieht müde aus. Ich denke, alle sind müde.

»Ja, ich hatte noch was vergessen und wollte es gleich erledigen.«

Er nickt schwach, dreht seinen Kopf langsam weg und geht dann nach kurzer Verzögerung.

Die Besprechung ist um 8 Uhr. Und ich habe wieder nicht viel vorzuweisen. Außer den handfesten Beweis, dass Simon gemobbt wurde. Aber spielt das überhaupt eine Rolle in unserem Fall? Sabrina. 

»Ray?«, rufe ich.

Da er nicht kommt, schaue ich, wo er ist. Natürlich beim Kaffeeautomaten. Ich könnte auch noch einen vertragen, weshalb ich mich zu ihm geselle. »Kommst du dann, ich möchte was mit dir bereden«, sage ich, während ich meine Tasse unter das Gerät stelle. Wider Erwarten ist unser Kaffee weder schlecht noch besonders gut, aber in Fällen wie diesen, geht es nicht ohne.

Ray grunzt etwas und folgt mir dann.

»Sabrina. Sie hatte Burnout, oder?«, starte ich dann direkt.

»Na ja, wir nahmen das indirekt an. Bestätigt hat das keiner. Es war nur so ein Gefühl. Warum?«, reagiert er noch träge, aber wird langsam wacher.

»Vielleicht ist das noch eine Parallele? Klar, bei Simon ist es Mobbing und noch diverse andere Dinge. Aber beides-«, ich verharre.

»Aber beides?«, hakt Ray nach, führt aber selber weiter: »Ändert nichts daran, dass es Mord war.«

Ich nicke. Irgendwie ja. Aber irgendwas stört mich daran. »Zudem ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit Problemen anfälliger sind…«, dieses Mal verharrt Ray. 

»Ja, für was eigentlich? Von Fremden entführt zu werden? Sich bei neuen Vertrauten so geborgen zu fühlen, dass sie ins Auto steigen, um irgendwo abgelegen ermordet zu werden?«

»Wir wissen gefühlt immer noch nichts«, gibt Ray geschlagen von sich und lässt seinen Körper nach hinten in den Stuhl fallen. Dabei stöhnt er laut.

»Nichts ist nicht korrekt, aber ja. Wir haben viel zu viele Lücken. Wonach werden die Opfer ausgewählt? Wie entsteht der Kontakt? Wer ist unser Täter? Welches Geschlecht? Welches Motiv?«

»Welchen Sinn haben die Notizen?«, fügt Ray hinzu. Fragen über Fragen.

Ich rufe die Akte am PC auf und schaue mir beide nochmal an. Dann notiere ich sie auf das Whiteboard an meiner Wand:

 

»Wusstest du, dass man annahm, dass Igel nur maximal 7 Jahre alt werden? 

Vor kurzem fanden Forscher einen Igel, welcher 16 Jahre alt wurde. 

Mit meinem Igel breche ich erneut den Rekord.«

 

»Genau wie die Schlange,

erneuert sich der menschliche Darm auch regelmäßig - verrückt, oder?«

 

»Wir sollten Melinda fragen«, erwidert Ray. 

»Ja, gleich bei der Besprechung.«

Ich schaue auf die Uhr, nehme einen großzügigen Schluck aus meiner Tasse und gehe dann zum Besprechungsraum. Natürlich mit dem Whiteboard. Ich stelle es seitlich ab und warte bis das ganze Team Platz nimmt.

»Guten Morgen allesamt. Danke, dass ihr hier seid. Habt ihr was?«, fange ich an, als es ruhiger wird. Ein Streifenpolizist sagt: »Wir haben uns noch etwas umgehört und noch einmal mit dem Besitzer der Hütte gesprochen.«

Ein anderer übernimmt: »Tatsächlich werden dort gelegentlich Feiern veranstaltet. Events mit regionalen Bands, Alkohol und Zelten. Aber wir konnten keinen Zusammenhang erkennen. Ansonsten ist der Ort nahezu immer unbenutzt.«

Ich nicke schwach, »danke.«

Eine Polizistin ergreift das Wort: »Wir haben uns noch einmal in der Lagerhalle umgesehen, jedoch nichts finden können. Anschließend haben wir die Baustelle freigegeben. Wie aufgetragen.«

»Bernd Miller verweigert jegliche Aussagen«, erwidert ein anderer. »Warum?«, frage ich und schenke der Person meine volle Aufmerksamkeit. Das tun auch alle anderen.

»Wir sind gestern Abend zu seinem Haus gefahren. Er kam sofort herausgestürmt, als er den Wagen sah und fragte, was wir wollen. Dass er nichts angestellt hat. Wir versuchten ihn zu beschwichtigen und wollten lediglich etwas zu den Mobbingfällen gegenüber Simon wissen. Er war dann sofort ruhig und meinte uns nicht helfen zu können.«

»Warum reagierte er so?«, spreche ich meine Irritation aus und Ray verzieht das Gesicht.

»Tut mir leid, ist gestern untergegangen. Bernd Miller wurde vor 9 Jahren wegen Körperverletzung angeklagt. Deshalb hatten wir auch seinen Wohnort in unseren Unterlagen.«

Ich verziehe mein Gesicht, leicht genervt und peinlich berührt, weil ich das nicht wusste, mache ich eine Geste, damit er fortfährt. »Er wurde angeklagt, als er betrunken einen ehemaligen Freund verprügelt hatte. Irgendwas mit Eifersucht. Seitdem er seine Strafe abgeleistet hat, ist er jedoch nicht mehr auffällig geworden.« 

»Bestellt ihn her«, sage ich und Ray nickt. Alle im Team wissen, dass es Rays Aufgabe ist. 

»Sonst noch etwas?«, frage ich in die Runde.

»Die Eltern von Sabrina haben angerufen und gefragt, ob wir schon etwas wissen.«

»Sag ihnen, dass wir uns melden, sobald wir etwas wissen oder Fragen haben.« Sie nickt schwach, dann kehrt Schweigen ein.

»Hat jemand noch eine Idee, Anhaltspunkte? Konnte jemand herausfinden, ob Sabrina zuvor in einer Bar war? War Simon an dem Abend noch irgendwo anders?

Konnte sein Laptop rekonstruiert werden?«

Jemand aus der IT ergreift das Wort: »Nein, völlig tot. Er hat offenbar genau gewusst, wo die Festplatte ist. Wir versuchen gerade noch, die Festplatte wiederherzustellen. Aber ich sehe keinen großen Erfolg darin.«

»Andere Online-Präsenz? Wo ist sein Smartphone?«, werde ich ungewollt lauter. Alle sehen einander an und schütteln den Kopf. »Es wurde kein Smartphone gefunden. Weder in dem Haus, noch an Simon oder im Umkreis von einem Kilometer rund um den Tatort.«

»Sind sie den Weg abgelaufen, den er gegangen ist, um zur Hütte zu gelangen?«, hake ich scharf nach. »Aber wir wissen doch gar nicht, ob er direkt dorthin ging. Vielleicht ist er woanders gewesen. Es macht keinen Sinn, 16 Kilometer abzusuchen«, schreitet Ray beschwichtigend ein. 

»Du hast recht«, versuche ich mich zu beruhigen.

»Bei Sabrina fehlte doch auch das Handy. Wahrscheinlich hat der Täter es in beiden Fällen mitgenommen«, erwidert jemand. »Funktioniert die Ortung?«, setze ich an und starre den IT-Menschen an, welcher nervös wird. »Nein, beide sind aus oder zerstört.«

 

»Wir haben in den umliegenden Bars gefragt, keiner hat Sabrina an dem Abend gesehen. In ihrem Abfall lag eine Rumflasche. Wir wissen aber nicht, ob sie diese an diesem Abend trank.«

»Verstehe. Dann, sofern wir davon ausgehen, dass sie daheim trank. Wie kam sie zum Tatort? Bitte Ideen sammeln. Ich wende mich einem Flipchart zu. Mit einem Stift bewaffnet notiere ich:

»Der Weg zum Tatort (Sabrina: 8 km / Simon: 16 km):«

Dann warte ich auf die Aufzählungen und notiere mit:

»- zu Fuß / Auto / Fahrrad / Roller

-  abgeholt von Freunden / Unbekannt / einem Vertrauten / dem Täter

- per Taxi / Anhalter«

 

»Laut meinem Profil von beiden, hatten sie keine Freunde. Sabrina wurde durch ihren Freund Moritz isoliert und jeder Ansatz führte ins Leere. Sie hatte, außer Lisa Steffen damals, keine Freunde«, meldet sich zum ersten Mal Melinda zu Wort. Sie ist Kriminalpsychologin. Noch dazu relativ gut auf Ihrem Gebiet. Ehe ich was sagen kann, fährt sie fort: »Bei Simon ist es relativ ähnlich. Wobei uns hier noch mehr Einblick fehlt. Seine Eltern behaupten zwar, er hätte welche, aber belegen können sie es nicht. Bislang hat sich auch niemand dazu gemeldet und ohne Smartphone oder anderweitigen Zugang zu sozialen Netzwerken, wird es schwierig sein, herauszufinden, ob er Freunde hatte, die ihn hätten fahren können.«

Da es keine Einwände gibt, streiche ich ‚Freunde‘ von meiner Aufzählung. Füge rechts daneben eine neue Aufzählung hinzu: »Ähnlichkeiten / Parallelen der Opfer:«

Darunter notiere ich: 

»- keine bekannten Freunde

- Probleme im Job (Burnout? (SB) & Mobbing (SM))«

 

»Ein Auto hatte Sabrina nicht. Geliehen wurde auch nichts. Das haben wir schon überprüft. Simon fuhr eine Zeit lang mit dem Rad zur Arbeit. Laut Mutter ist das dann ‚kaputt‘ gegangen. Jedenfalls hat er das behauptet. Sie hat es nie mehr gesehen, seitdem ging er zu Fuß. Das Auto nutzte er nie.«

»Das waren doch einige Kilometer?«, fragte ich nach und überlegte. 

»Um die 4 Kilometer«, beantwortet mir jemand meine Überlegung.

Ein schwaches Raunen ging durch die Truppe und ich ahne schon, was mit seinem Fahrrad passiert sein könnte. »Wie sieht’s bei Sabrina aus? Rad, Roller?«

»Klären wir.«

Melinda reagiert wieder: »Per Anhalter halte ich für unwahrscheinlich. Beide sind laut meinem Profil relativ zurückhaltend und schüchtern. Sabrina könnte als Frau vielleicht Erfolg haben, aber ich denke nicht, dass sie das Risiko eingehen würde. Schon gar nicht, nach allem, was sie mit Moritz erlebt hat.«

»Warum nicht dann erst recht?«, werfe ich konträr ein und erwarte eine psychologisch begründete Erklärung. Sie schüttelt jedoch den Kopf, »natürlich. Das kann auch sein.«

Etwas überrascht schaue ich sie kurz an, dann in die Runde. »Bitte prüfen. Ebenso alle Taxiunternehmen in der Stadt kontaktieren und nachfragen, ob sie in besagten Zeiträumen an den Orten waren.«

 

Da sich eine Aufbruchsstimmung ausbreitet und einige schon fast dabei sind zu gehen, hebe ich den Arm hoch. »Wir sind noch nicht fertig.«

Sie setzen sich wieder und es wird still. So still, dass wir den Wind an den Fenstern pfeifen hören.

»Ich möchte noch ein paar Daten zum Täter sammeln. Es ist wichtig, die Opfer zu verstehen, um den Täter zu finden. Aber dennoch sollte unser oberstes Ziel sein, den Täter zu fassen, bevor noch jemand ermordet wird.«

Sie klopfen auf den Tisch. Ein Zeichen der Zustimmung.

»Täter:«, notiere ich auf eine komplett neue Seite.

»Ich habe dazu die Notizen aufgeschrieben, Melinda, ich würde dich bitten, ein grobes Profil zu erstellen.« Sie sieht überrascht auf, steht dann auf und positioniert sich vor dem Whiteboard, welches ich an die Wand hänge. 

 

Melinda scheint zu überlegen, sieht auch auf ihre Unterlagen und fängt dann, nach einigen Minuten, an zu reden:

»Es ist kaum zu bestreiten, dass unser Täter ein unkonventionelles Verhalten und Denken hat. Die Tatsache, dass Notizen am Tatort hinterlassen wurden, die noch dazu mit Aufwand erstellt wurden, spricht für ein großes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.

Den Bezug zu Tieren verstehe ich nur begrenzt, jedenfalls muss das Wissen in Biologie vorhanden sein, noch dazu medizinisches Wissen und die Fertigkeiten dazu. Zwar sehen einige Stellen der Leichen unordentlich aus, aber das Hauptaugenmerk, die drapierten Organe, liegt immer auf das perfektionistische Werk.«

Sie lässt es kurz sacken, fährt dann aber fort: »Ich kann mir vorstellen, dass unser Täter sich selbst als Künstler oder Künstlerin wahrnimmt. Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Tiere hervorgehoben werden. Auch Melo hat es gesehen und bestätigt.«

Ich werde hellhörig. Sie hat mit ihm darüber geredet?

»Mit Fachleuten aus meinen Kreisen sind wir auch zu dem Ergebnis gekommen. Wir suchen also eine Person, die etwas darstellen und aussagen möchte. Wir verstehen nur noch nicht was.«

 

»Glaubst du wirklich, das könnte eine Frau gemacht haben?«, wirft einer in den Raum und ich versuche zu erkennen, wer das sagte, aber finde den Betroffenen nicht. 

»Warum nicht? Das Geschlecht des Täters ist uns unbekannt«, erwidere ich.

»Weil laut den Unterlagen immer ein Genickbruch die Todesart ist. Außerdem …«, er schweigt. Vermutlich hat er bemerkt, dass die Fortsetzung seines Satzes nicht passend wäre.

»Melo teilte mir bereits zu Beginn mit, dass beim Genickbruch Kraft eine viel kleinere Rolle spielt als die meisten annehmen. Tatsächlich ist es Technik. Ich habe mich daraufhin informiert und seine Vermutung, dass so etwas und wie so vieles andere im Internet zu finden sei, wurde bestätigt.«

»Im Internet steht, wie man einem Menschen das Genick brechen kann?«, fragt er fassungslos.

»Sogar als Video.«

 

»Schön und gut, aber es kann doch nicht sein, dass das alles so neu ist. Gibt es keine Mörder, die ihre Opfer ausgestellt haben? Selbst in Serien wurde das thematisiert, wenn auch nicht in Deutschland«, meint eine Polizistin, die schon die ganze Zeit die Notizen anstarrte. Dabei wechselte ihr Blick zwischen der Nachricht des Täters und den Punkten, die ich aus Melindas Ausführung notiert hatte.

»Das ist ein guter Anhaltspunkt. Danke. Bitte umgehend prüfen.«