Referenz


Es ärgert mich, dass ich nicht auf die Referenzfrage gekommen bin. Aber ich sage mir immer wieder, dass wir ein Team sind und nicht ich den Fall alleine löse, sondern wir. Wir alle zusammen. Alleine ginge das Meiste ohnehin gar nicht.

 

Gestern sind wir dann noch auf einen Fall gestoßen;

1999 verhaftet, Alexandra Kruse, 7 Opfer.

Sie hat ihnen die Halsschlagader aufgeschnitten, das Blut in einem Eimer gesammelt und neben dem Leichnam eine Leinwand bemalt. Ich habe 6 ihrer Bilder gesehen.

Die Frau hatte großes Talent. Paradoxerweise hat sie immer ihre Opfer als Porträt gemalt. Manchmal mit einem Lächeln, manchmal traurig. Es wurde gesagt, dass sie die Opfer gut traf und ihren alltäglichen Zug verbildlichte. Selbst gab sie an, die ausgewählten Frauen über eine längere Zeit beobachtet zu haben. Sie fand Gefallen daran, dass eine »so schöne Farbe, aus einer so schönen Quelle schoss«.

Es war nur einmal ein Mann dabei. Das wäre dann das 7. Gemälde, welches nicht gefunden wurde. Alexandra macht bis heute noch ein Geheimnis daraus, was es damit auf sich hat. Einige Male nannte sie es einen Fehlgriff und erklärte, dass sie das Bild zerstörte. Ein anderes Mal betitelte sie es als krönenden Schatz, da es das letzte Opfer war. 

 

Zu unserem Erstaunen fanden wir heraus, dass sie derzeit in unserem regionalen Gefängnis inhaftiert ist, weshalb ich sofort einen Termin vereinbarte.

»Das kann doch kein Zufall sein«, sage ich zu Ray.

»Na ja. Was soll sie damit zu tun haben? Sie sitzt schon seit Jahrzehnten im Gefängnis.«

»Ja, aber gerade solche Kunstmorde?«, deute ich an und sage nichts mehr. Wir fahren gerade zu ihr. Damals wurde sie die Blutkünstlerin genannt. Ich überlege, welche Namen derzeit für unseren Täter in Umlauf sind. Möchte es jedoch nicht verschreien, es wird kein Serienmörder. Punkt.

 

»Am Montag fahren wir zur Berufsschule, richtig?«, unterbricht Ray meine Gedanken. Irgendwas stimmt heute nicht. Er ist so übertrieben ruhig und in sich gekehrt. 

»Ja genau. Vielleicht haben die Schulkameraden etwas mitbekommen«, antworte ich. 

»Oder sie haben ihn auch gemobbt und er hatte nirgends Ruhe«, reagiert Ray schroff.

»Was ist los?«, frage ich und parke beim Gefängnis. »Nichts«, versucht er es abzutun.

»Bestimmt nicht«, retourniere ich ironisch.

Er fängt an zu gestikulieren: »Was, wenn meinen Kindern auch so etwas passiert?« Ich bin ständig in der Arbeit, wahrscheinlich kriege ich das dann nicht einmal mit.«

Da drückt also der Schuh. »Das macht es zwar nicht besser, aber die Eltern von Simon waren da und haben es auch nicht gesehen.« Er seufzt, obwohl ich noch gar nicht fertig war.

»Nicht gesehen, weil Simon es nicht zeigen wollte. Er hat es nicht gewollt, warum auch immer. Versuch’ für sie da zu sein, aktiv zu fragen, ohne zu viel zu fragen.«

Langsam nickt er, »du hast recht.«

»Außerdem bist du Polizist, du wirst es gewiss sehen oder spüren. Du kannst das nämlich ganz gut.« Ich grinse leicht und stupse ihn am Oberarm. Er erwidert mein Grinsen, bestätigt es und verlässt dann das Auto.

 

Wir durchlaufen das ganze Gefängnisprozedere; Anmelden, entwaffnen, alles abgeben, kurz abgetastet werden, durch Detektoren laufen und dann zum Besprechungsraum begleitet werden. Ein Wachmann positioniert sich am Eingang. Auf dem Weg hierher sind wir drei Wachen und zwei Mitarbeitern begegnet. Alexandra Kruse wird hereingeführt und die Handschellen werden gelöst, als sie uns gegenüber Platz nimmt.

Sie legt den Kopf schief. Ich reiche ihr meine Hand und stelle mich vor. Ray mustert mein Vorhaben, doch ehe er was sagen kann, ergreift Alexandra die Hand kräftig, irritiert und schüttelt sie. »Kein Körperkontakt«, ruft der Wärter streng und sieht mich tadelnd an.

»Entschuldige«, erwidere ich und grinse leicht, schaue dabei aber mein Gegenüber aus dem Augenwinkel an. 

Ray stellt sich auch kurz vor und ich fange an zu erklären, warum wir hier sind.

Bisher verhält sie sich mehr als verhalten und nickt, aber als ich ihr beschreibe, wie das erste Opfer dargestellt wurde, werden ihre Augen größer und funkeln.

»Das hätte ich gerne gesehen«, wispert sie und wirkt verträumt. »Ein Meisterwerk«, ergänzt sie. Und ich finde es faszinierend, dass sie es faszinierend findet, obwohl ihre Reaktion vermutlich nicht so überraschend ist. 

»Können Sie uns etwas über den Täter oder die Täterin sagen?«, schließe ich ab.

Von Simon habe ich gar nichts erzählt. 

»Sie wissen nicht einmal das Geschlecht? Dann kann ich nichts sagen«, entgegnet sie schroff, mustert mich aber eingehend.

»Warum haben Sie mit dem Blut ihrer Opfer gemalt?«, meldet sich Ray zu Wort.

Ihr Blick könnte kaum abweisender sein. »Warum auch nicht?«, reagiert sie schnippisch.

Sein Mund klappt leicht auf, dann schließt er ihn wieder und schweigt.

»Ich würde gerne Bilder der Opfer sehen«, wendet sie sich wieder mir zu. 

Ich überlege, ob das eine gute Idee wäre, sehe sie an und ziehe dann den Umschlag raus.

Die Bilder von Sabrinas entstelltem Körper schiebe ich über den Tisch. Sie berührt sie zuerst nicht, beugt sich nur vor, nachdem sie den Blick von meinen Augen gelöst hat.

Nach einer Weile berührt sie ein Bild sanft, streicht mit einem Finger darüber und es sieht so aus, als versucht sie jedes Detail zu erfassen.

Selbstverständlich habe ich mich genauer informiert. Alexandra ist eine Psychopathin. Eine von den seltenen, die mit jedem Opfer einen größeren Tötungsdrang entwickelt haben. Wobei es in ihrem Fall kein Drang zu töten, sondern das Blut war. Das Blut als Farbe.

Zuvor war sie analytisch unterwegs, relativ erfolgreich im Finanzwesen. Eine hohe Intelligenz weist sie nicht auf, eher durchschnittlich. Was wohl auch die Ergreifung vereinfachte damals. Leider wird in Filmen immer ein falsches Bild von Psychopathen präsentiert. Die meisten sind nicht hochintelligent, wie Hannibal Lecter. Und töten auch nicht, das hat nämlich nichts mit Psychopathie, sondern mit einer Verkettung vieler Faktoren zu tun.

 

»Wow, wie wunderschön«, sagt Frau Kruse. 

»Es muss eine Person sein, die aus etwas Grässlichem, wie dem Menschen, etwas Wunderschönes schaffen will, wie eben Tiere«, erklärt sie langsam. Sieht mir dabei immer wieder kurz in die Augen, möchte aber eigentlich den Blick nicht vom Foto wenden. Ray zieht die Fotos zurück. »Sie sehen den Menschen als etwas Grässliches an?«, hake ich nach.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich nicht, ich finde Menschen, vor allem Frauen, sehr ästhetisch. Aber die Person, die ihr sucht, sieht das vermutlich nicht so.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Alexandra sieht wieder zum Tisch, erinnert sich aber, dass Ray das Foto weggenommen hat und für einen Bruchteil einer Sekunde kann ich in ihrem Blick Verfluchungen oder Tötungsabsichten ihm gegenüber erkennen. Dann sieht sie wieder auf den Tisch und streicht über die Position, an welcher das Foto lag, ehe sie antwortet: »Ich weiß nicht, das sieht man doch.«

Ihr Blick wandert wieder zu mir, respektvoll, interessiert. Dann tippt sie sich auf den Kopf.

»Ah, stimmt. Ihr seht sowas nicht. Das haben mir die Leute hier gesagt«, sie zögert, »ich zerstöre etwas, um daraus etwas Schönes zu machen. Meine Opfer sind schnell gestorben, aber abgesehen von ihrem Hals, waren sie unversehrt.« Sie sinniert und schweift gedanklich ab, ich klopfe mit dem Nagel zweimal auf den Tisch - völlig intuitiv. Dadurch hole ich sie offenbar zurück und sie fährt fort: »Dieses Opfer war fast überall berührt worden. Der Kopf war offengelassen, oder? Das Bein zerfetzt? Die Hände wurden positioniert und alles ist darauf ausgelegt, nicht den Menschen an sich zu sehen, sondern das, was sie in den Händen hält: den Igel.«

»Aber das ist ihr Gehirn.«

»Für dich. Ich weiß natürlich nicht, wie es genau für den Täter oder die Täterin ist, aber ich kann mir vorstellen, dass darin kein Gehirn gesehen und es nicht als dieses kategorisiert wird.«

Ich sage nichts dazu, mustere sie nur. 

 

»Die Zeit ist um«, ruft der Wärter. Wobei mir neu ist, dass wir uns an die üblichen Zeiten halten müssen, aber ich erinnere mich, dass Frau Kruse später noch einen anderen Termin hat.

»In Ordnung. Ich bedanke mich für das Gespräch und ihre Sichtweise«, wende ich mich an Alexandra, strecke dieses Mal nicht meine Hand aus, deute es nur kaum sichtbar an. Sie versteht es und grinst schief. »Die Freude war ganz meinerseits.«

Sie sagt das in einem durchaus interessanten Ton, als würde ich sie faszinieren und innerlich freue ich mich, dass alles so funktioniert hat, wie ich es geplant habe.

Alexandra bleibt im Raum, wir werden von einem anderen Wärter abgeholt, auf dem Weg kommt uns eine Frau in meinem Alter entgegen, Hemd, lange, schwarze Stoffhose und eine Tasche mit Dokumenten vermutlich. Sie läuft frei, ohne Begleiter, daher schätze ich, dass sie eine Angestellte ist. »Wer redet jetzt mit Frau Kruse?«, frage ich den Wärter vor uns.

»Ich glaube die Sozialarbeiterin.«

Ja das passt. »Sie kommt doch nicht raus, oder?«, will Ray es genauer wissen. 

»Nein. Es wird zwar gelegentlich probiert, aber sie stellt nach wie vor ein zu großes Risiko dar.«

Damit hat sich das Thema erledigt. Auch wenn ich Rays nachfolgenden Gedanken verstehen kann, nur werden Sozialarbeiter oft falsch eingeschätzt. Ein Aufgabengebiet ist die Resozialisierung, ja. Aber bei weitem nicht die Einzige. 

 

Ich spüre schon die ganze Zeit, wie es in ihm brodelt und kaum haben wir das Gefängnis verlassen und ins Auto gesetzt, platzt es aus ihm heraus: »Was sollte das denn? Du blamierst unser Revier!«

»Warum denn?«, stelle ich mich bewusst dumm und amüsiere mich über seinen Ärger.

»Körperkontakt - hallo? Du weißt, dass die dort tratschen. Das hat bestimmt unseren Chef noch vor unserer Ankunft erreicht«, bleibt sein Ton scharf.

»Damit werde ich fertig. Entspann dich. Hast du nicht gesehen, wie sehr ihr das gefallen hat?«

Schlagartig beruhigt er sich. Immer wieder bemerkenswert, wie schnell die Emotionen auf- und abfahren. »Absicht?«, fragt er vorsichtig nach.

»Ja. Sie hat mich bis zum Schluss respektiert, wie jemanden auf ihrer Ebene. Nicht ein potenzielles Opfer unter ihr. Nicht jemand über ihr. Wie eine geheime Verbündete. Auch wenn mein Tun mehr als offensichtlich war, sie hat es geschluckt. Nicht umsonst habe ich mit Melinda über eine Stunde geredet, als du mit was anderem beschäftigt warst.«

Ich starte den Motor und warte auf die nächste Frage, aber sie bleibt aus.

Er kennt Melinda und wenn wir geredet haben, versteht er automatisch, dass es ein psychologischer Trick war. Bemessen anhand dessen, was wir über sie und ihre Bedürfnisse wissen. Das hat nichts mit Psychopathie zu tun, sondern ist in erster Linie einfache Psychologie. Jeder Mensch hat Bedürfnisse und fühlt sich jenen Personen hingezogen, die diese befriedigen. Teilweise unabhängig von der Attraktivität oder anderer äußerer Umstände.

 

»Fahren wir zu den Eltern von Simon?«, unterbreche ich die Stille, die sich ausgebreitet hat.

»Willst du dich etwa vorm Anschiss des Chefs drücken?«, witzelt Ray, wieder in alter Form. Und da sagt Mann immer, die Frau sei sprunghaft. Pff.

»Klar doch«, entgegne ich trocken. Mir ist das egal, ich habe eine ehrliche Einsicht von jemanden, der Menschen getötet hat. Ob das nun hilft oder nicht, wird sich herausstellen.

 

 

Bei der Familie angekommen, erwarten sie zuerst ein Ergebnis, welches leider ausbleibt. Dadurch sehen wir zwei betroffene Gesichter. »Wann dürfen wir die Beerdigung …«, fängt die Mutter an, dabei ist ihr sichtlich unwohl. 

»Wir können die Leiche noch nicht freigeben, tut mir leid«, übernehme ich den bösen Part in dieser Situation, weil Ray einen besseren Draht zu Angehörigen hat. Das war schon immer so. Nicht nur in unserem Fall. Ich komme mit komischeren Gestalten viel besser klar. Vielleicht hätte ich auch Sozialarbeiterin werden sollen. Lieber nicht. Am Ende hätte ich noch mit ihnen sympathisiert, so verkorkst, wie mein Kopf manchmal ist. Jeder kann zum Täter werden. Da gab es doch einmal einen Film oder war es eine Serie? Jedenfalls wurde klar aufgezeigt, dass jeder Täter werden kann, unter bestimmten Bedingungen und zur falschen Zeit.

 

»Wie können wir ihnen helfen? Möchten Sie etwas trinken?«, öffnet Celine die Tür ganz und lässt uns hinein. »Einen Kaffee, gerne«, bitte ich, Ray stimmt zu. Wir folgen ihrem Mann, Tom, ins Wohnzimmer. Das Haus sieht unordentlicher aus. Einige Dinge liegen lose herum. Geschirr sammelt sich. Vermutlich ist das normal im Trauerprozess. Bisher habe ich niemanden verloren, der mir wichtig war, daher kann ich das nicht so gut nachempfinden. Die Vorstellung ist tragisch, aber irgendwie nicht greifbar. Schlussendlich verbringe ich nicht meine Zeit damit, mir vorzustellen, wie es ist, wenn jemand nahes stirbt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Dienst sterbe, ist vermutlich höher. Oder geringer. Immerhin sind wir in Deutschland. Wer weiß.

 

Nachdem der Smalltalk langsam abklingt, stoße ich das Thema an, weswegen wir eigentlich hier sind: »Wir haben erfahren, dass Simon gemobbt wurde in der Arbeit. Wussten Sie etwas davon?«

Sie sieht mich an, wirkt überrascht, dass ich was sage und ich frage mich, wie lange ich nicht zugehört habe oder ob ich etwas verpasst habe. Tom taut als erster auf: »Ja, na ja, er hat schon mal erwähnt, dass sie ihn verarschen oder so, aber das gehört ein Stück weit dazu im Bau.«

»Haben Sie nie konkreter nachgefragt?«, setze ich nach, ungewollt schärfer als es soll.

»Wa-warum denn, was war denn?«, klingt Celine betroffen. Ich sehe Ray an, er lässt mir jedoch den Vortritt, dann bleibe ich die Böse, gut.

Nach kurzer Schilderung von dem, was wir geahnt haben und dem, was Jessica uns erzählt hat, stoppe ich, weil sie anfängt zu weinen.

»Oh Gott.«

»Sowas hat er nicht erzählt, er meinte nur ‚blöde Streiche‘, hat es dabei selbst abgetan, deshalb habe ich nicht näher nachgefragt«, erklärt Tom.

»Sind Ihnen nicht die fehlenden Schuhe, das kaputte Fahrrad oder fehlendes Essen aufgefallen?«, setze ich drauf. Schlechtes Gewissen bereiten kann ich.

»Ja schon, aber …«, er stoppt, sagt gar nichts mehr. Sie hält sich die Hände vors Gesicht und Tom nimmt sie daraufhin in den Arm. »Es tut mir sehr leid«, versuche ich zumindest etwas Mitgefühl auszudrücken. Das kommt von mir jedoch nicht an, weshalb ich kurz frage, ob ich noch einmal in sein Zimmer darf. Tom nickt schwach und ich überlasse Ray den Rest. Auch wenn es nicht fair ist jetzt zu flüchten, scheint es die beste Option. 

Im Zimmer gibt es eigentlich nichts für mich zu sehen, deshalb stehe ich oben am Treppenrand und lausche dem Gespräch.