Sein Umfeld


»Warte noch«, hält Ray mich zurück und berührt mich dabei. 

»Worauf?«, flüstere ich.

Es klingelt, »jetzt müsste Pause sein, warten wir bis es 10 Minuten nach Pausenende ist.«

»Aha«, ich denke nach, grinse dann verschmitzt.

»Dann hören sie viel besser zu und haben garantiert mehr zu sagen.«

 

Wir laufen durch den Pausenhof und kassieren nicht wenige neugierige Blicke. Ein Lehrer kommt direkt auf uns zu, was mich amüsiert, weil die drei anderen im Rauchereck uns wissend ignoriert haben.

»Oh, ist etwas vorgefallen? Wie kann ich Ihnen helfen?«, fängt er sofort an, hinter ihm kommt Herr Oswald aus der Türe, erst irritiert, dann grinsend.

»Wir möchten mit der 12b reden, wegen dem Fall: Simon Messner.«

»Ah, ja, wie tragisch«, wird er ganz ruhig und ist ganz froh, als Herr Oswald übernimmt:

»Schön, Sie wiederzusehen, Frau Growe. Sie können mir dann folgen, ich bin gleich in der Klasse vertreten.«

Ich sehe zu Ray und er grinst schief. 

»Nichts mit zehn Minuten später«, flüstere ich, als wir die Begrüßungsfloskeln beendet haben und ihm folgen. 

»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Die Pause geht noch ungefähr zehn Minuten.«

»Gerne«, sagen wir beinahe gleichzeitig.

Ray lässt uns Raum und der Lehrer positioniert sich relativ dicht neben mir. 

»Sie können mich Elias nennen. Darf ich fragen, ob Sie schon Verdächtige haben?«, spricht er leise und bedeckt. Dabei hat er sich leicht nach unten gebeugt, um mir noch näher zu sein. Normalerweise stört mich das, aber dieses Mal lasse ich es unkommentiert zu. 

»Dazu kann ich leider nichts sagen. Konnten Sie mehr über Ihren Schüler in Erfahrung bringen?«, retourniere ich. 

Wider Erwarten verlangsamt er seinen Schritt, »Ja, tatsächlich schon.«

Wir kommen im Lehrerzimmer an und bleiben beim Kaffeeautomaten stehen. Er stellt die Tasse darunter und betätigt den Knopf. 

»Simon war im ersten Lehrjahr ein sehr guter Schüler. Er hat spielend gelernt, vieles gewusst und wurde als sehr offen und intelligent wahrgenommen. Das hat sich jedoch von Monat zu Monat geändert.«

Elias stellt die nächste Tasse rein, »er war schon früher recht introvertiert. Das hat sich noch mehr intensiviert, er hat sich gar nicht mehr beteiligt, saß primär passiv und gedankenversunken im Unterricht, machte keine Notizen mehr, was er zu Beginn ordentlich tat, schrieb teilweise nicht einmal mehr mit. Die Blätter wurden teilweise unbeschrieben eingepackt, an Werkstücken wurde zu Beginn eifrig und genau gearbeitet, gegen Ende des ersten Lehrjahres fast gar nicht mehr. Teilweise ist er verschwunden, als der Lehrer rausging oder hat sich in eine Ecke gesetzt.«

Wir nehmen am Tisch Platz und riechen am Kaffee, der überraschend gut duftet.

»Hat ihn niemand darauf angesprochen?«, hinterfrage ich.

»Doch. Er wäre durchgefallen, also sprachen ihn einige Lehrer an. Aber er blaffte zurück, was gar nicht zu ihm passte. Es wirkte auch so, als wären das nicht seine Worte gewesen. Die Lehrer ignorierten ihn irgendwann. Immerhin störte er nicht und mehr als für sich selbst lernen, geht hier nicht.«

»Wie lief’s mit den Mitschülern?«, setzt Ray an. 

»Das können Sie gleich selber fragen«, antwortet er und zuckt mit den Schultern. 

Ray schmollt kurz, dann fährt Elias fort: »Der Sportlehrer sagte, dass er ihn noch nie gesehen hat.«

»Wie, noch nie? Im ersten Lehrjahr auch nicht?«, hake ich nach, weil ich Ray die Schmach ersparen will und amüsiere mich innerlich darüber.

»Da war jemand anderes Sportlehrer, aber er weiß grundsätzlich nicht mehr, wer wann und wo war. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Eigentlich nicht, aber ich nicke schwach. Vermutlich irgendwas mit Namen-merken und Desinteresse. »Haben Sie noch etwas herausfinden können?«, rufe ich über den Gong hinweg.

Sein Blick schweift ab, er scheint ernsthaft darüber nachzudenken. 

»Ist er beim Schulpsychologen gewesen?«, meldet sich Ray nun doch.

»Gute Frage. Wir können zuvor vorbeigehen und nachfragen, sofern sie momentan da ist.«

Er wendet sich von uns ab und fragt einen anderen Lehrer, ob eine Frau Hein, aktuell vor Ort ist. Kurz darauf erhalten wir die ernüchternde Antwort, »nein, ich glaube, sie ist heute bei der Mittelschule.« 

»Hm?«, setze ich nach. 

»Unsere Schulpsychologin ist für die Schulen im ganzen Umkreis zuständig, deshalb ist sie nicht immer hier«, erklärt er und ich lasse unsanft meine fast leere Tasse auf den Tisch sinken.

»Verstehe ich das richtig, EINE Psychologin ist für mehrere Schulen zuständig? Für wie viele tausende Schüler?«

»Ja«, fängt er an, sieht betroffen aus, »wir beschweren uns auch darüber, aber es ändert sich nicht. Wir können keine weiteren einstellen.«

Der andere Lehrer kommt rüber und ist deutlich verärgerter über diese Lage, »über 5000 Schüler und eine Psychologin. Das kann nicht funktionieren.«

»Warum?«, fragt Ray und kann die Frage nicht einmal ausformulieren.

»Kein Geld vom Bund, angeblich.«

Ich schüttele den Kopf. Herr Oswald steht auf und wir folgen ihm. Zehn Minuten später dürften wir hinbekommen haben.

 

Nachdem wir uns vorgestellt haben und gefragt haben, was sie über Simon Messner wissen oder ob ihnen etwas aufgefallen ist, war die Klasse zuerst ruhig und verhalten. 

»Er war schon seltsam«, erwidert ein Schüler dann und wird von den anderen mit »Psssst«-Geräuschen überhäuft. 

»Er ist schon tot, was bringt es euch, jetzt irgendwas zu verheimlichen?«, gebe ich trocken von mir und ein Raunen zieht durch die Reihen. Einige geschockte und fassungslose Gesichter starren mich an. 

»Wurde er von euch gemobbt?«, grätscht Ray scharf rein.

»Nein«, antwortet der Gleiche. Ein anderer übernimmt: »Zu Beginn war er wie alle bemüht, Freunde zu finden, sich gut einzugliedern, stand auch oft bei uns, unterhielt sich.«

»So richtig Anschluss hat er nicht gefunden, aber er war hier akzeptiert, später hat er sich distanziert«, übernimmt erneut jemand anderes. Der Schüler in der Mitte, mit umgedrehter Kappe auf dem Kopf, fährt fort: »War halt die ganze Zeit allein, allein beim nicht-Essen, allein in der Pause, is’ oft einfach verschwunden und kam dann wieder. Wir haben gesagt, er kann sich zu uns chillen, aber er hat’s ignoriert und is’ einfach wieder weggegangen.«

»Kommt schon, jetzt mal Klartext«, bittet Ray immer noch energisch. Ich verstehe seine Emotionen dahinter, aber es ist dennoch deplatziert. Die Schüler haben unabhängig des Mobbings keine Schuld am Mord. Zumindest würde das in keinster Weise passen. Oder suchen wir den Täter hier? Ich sehe Ray an, versuche zu ergründen, ob er das in Erwägung zieht, aber erkenne das nicht in seinem Ausdruck. Als er meinen Blick erwidert, wirkt er schuldig. Anscheinend vermutet er das genauso wenig. Ich seufze und schaue die Mitschüler an. 

»Du hast doch mal die Tasche weggenommen«, petzt ein Schüler und zeigt auf den anderen. »Und du hast dich mal über etwas lustig gemacht«, schlägt er zurück. 

»Das tut doch nichts zur Sache.«

»Aber meins?«

Sie fangen an zu streiten, auch andere werfen einander Situationen an den Kopf, bis Herr Oswald auf den Tisch knallt. Sogar ich zucke leicht, die Schüler erschrecken sich noch deutlich mehr. »Ruhe jetzt. Es geht wohl kaum um Sticheleien untereinander. Ist euch irgendwas aufgefallen an ihm?«

»Wisst ihr, ob er Freunde hatte oder andere Kontakte?«, füge ich hinzu.

»Er war halt komisch und wurde immer komischer. Niemand der dazugehören wollte und es gleichzeitig auch nie tat.«

Die ganze Unterredung zog sich noch eine knappe halbe Stunde, bis wir uns verabschieden.

Erfolgreich war das wohl kaum. Sie kennen ihn fast gar nicht. Kontakte außerhalb kannten sie auch nicht. Über die krassen Mobbingsituationen in seiner Arbeit, die wir nur leicht angeschnitten haben, waren viele erstaunt. Sie haben bestätigt, dass es rau zugeht auf dem Bau, aber auch gesagt, dass das definitiv zu weit geht.

 

»Das war mal für’n Arsch«, platzt es platt aus mir, als wir die Schule verlassen haben. Ray sieht mich überrascht und amüsiert an. Die Wortwahl kennt er nicht, verständlich. »Na immerhin hast du ‚Elias‘ wieder gesehen«, witzelt er und betont seinen Namen.

Ich verdrehe meine Augen, »und das hat mir was gebracht?«

Ray wird wieder ernst und seine Haltung passt sich meiner geknickten Form an.

»Wann kommt er?«, fragt Ray und ich fühle mich kurz vor den Kopf gestoßen. »Lester«, erinnert er mich. Ach ja, da war noch was. Ich sehe auf meine Uhr und nicke gedankenversunken.

»In 2 Stunden.«

Wir steigen ins Auto und schweigen uns an. Kurz bevor ich beim Revier parke, breche ich die Stille: »Du solltest deinen Ärger rauslassen, bevor er kommt. Ich möchte keine Ungereimtheiten beim Gespräch mit Lester.«

Dabei sehe ich ihn genau an, seinen Versuch so zu tun, als würde er nicht wissen, was ich meine, spart er sich. »Jawoll Ma’am«, presst er überspitzt heraus. Fehlt nur noch, dass er salutiert.

Ray verschwindet dann tatsächlich im Trainingsraum und ich bereite mich mental auf das bevorstehende Treffen vor. Ich ahne schon, wie das ungefähr ablaufen wird.

 

»Guten Tag Herr Lester, schön, dass Sie hier sind«, empfange ich unseren Gast und reiche ihm die Hand. Dasselbe tue ich beim Anwalt, welcher deutlich unfreundlicher ist.

»Ja, gerne doch, ich helfe, wo ich nur kann«, erwidert Herr Lester überfreundlich. Dabei wirkt es weder gespielt noch ernst. Paradox irgendwie. Ich geleite beide zum Verhörraum, was dem Anwalt sofort auffällt. Aber er lässt es unkommentiert, untypischerweise.

Ray biegt auch schon um die Ecke und kommt mit in den Raum. Er begrüßt auch beide kurz, dann nehmen wir Platz. »Was verschafft mir die Ehre, hier vorgeladen zu werden?«, startet Herr Lester offen. Ob er weiß, dass wir mit Frau Dinter gesprochen haben?

»Wir haben von einigen Zwischenfällen gehört, in welchen Herr Messner physisch oder psychisch verletzt wurde. Können Sie mir dazu etwas sagen?«, komme ich sofort zum Punkt. Sein freundlicher Gesichtsausdruck entgleitet ihm und er sieht betroffen aus. »Was genau?«, spricht er bedächtig. »Konkrete Mobbingfälle, Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung, suchen Sie sich etwas aus«, breite ich offen aus, bemüht diese Situation nicht zu genießen.

»Wer behauptet sowas?«, wirft er zurück. Auch Herr Schuster meldet sich zu Wort: »Haben Sie Beweise? Das sind grobe Anschuldigungen, die wir nicht dulden.«

»Ja, wir haben eine Zeugenaussage.«

Der Anwalt schweigt, während der Verdächtige überlegt. »Wer behauptet sowas?«, wiederholt er sich. »Das dürfen wir nicht sagen. Sie verstehen schon, Datenschutz und so.«

»Der Chef meinte, ihr habt unsere Unterlagen. War das eine ehemalige Angestellte?«

Mein Schweigen fasst er offenbar als Zustimmung auf, dann rät er oder weiß es vielleicht schon die ganze Zeit: »Jessica Dinter?«

»Wie gesagt, wir dürfen nichts darüber sagen. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie auf meine Fragen eingehen würden.«

Er winkt ab, »wissen Sie, Jessica hat schon von Anfang an Probleme gehabt. Sie kam oft unpünktlich, hat ständig Hilfe gebraucht, sich beklagt und dann gekündigt, als sie frisch einen Auftrag zugeteilt bekam.«

Seine Körpersprache unterstreicht seine Worte treffend, »sie hat auch oft gelogen und, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sogar einmal Werkzeug gestohlen. Als ich das sah, habe ich nichts dazu gesagt, wer weiß, wozu sie es benötigt. Vielleicht hat sie es auch wieder zurückgebracht.«

»War Ihnen bewusst, dass Simon Messner während Ihrer Aufsichtspflicht gemobbt wurde?«, stelle ich erneut die Frage und lasse mich nicht von seinen Ausflüchten beirren. 

»Verstehen Sie nicht, was ich Ihnen sagen will?«, regt er sich leicht auf und gestikuliert mit seinen Händen. »Was denn?«, gehe ich auf sein Spiel ein.

Sichtlich erleichtert wirkt es wie eine Beichte: »Sie lügt. Sie hat gar nichts gesehen und will uns als schlechte Firma darstellen. Unseren Azubis geht es blendend. Fragen Sie sie doch selbst. Wir unterstützen kein Mobbing!«

»Also ist Ihnen nichts aufgefallen? Keine zerstörten Dinge, sein unsoziales Verhalten, mangelndes Essen?«, hake ich nochmal nach und ernte ein Kopfschütteln.

»Sagte ich doch gerade, nein. Bei uns läuft alles gut. Er kam immer pünktlich und nichts ging kaputt, zumindest nichts durch die Arbeit.«

»Und anderweitig?«, greift Ray das Ungesagte auf.

»Er hat mal erzählt, dass sein Fahrrad kaputt sei oder dass er neue Schuhe kaufen müsse. Aber mehr auch nicht. Warum oder inwiefern das kaputt war, hat er nicht erzählt.«

 

Ich vertraue auf mein Gefühl, dass er lügt und das auch noch verdammt gut, weshalb ich bluffe: »Wir haben noch andere Aussagen, die bestätigen, dass Sie involviert waren in diesen Mobbingfällen. Darunter das Anleiten von konsequent sinnlosen Aufgaben, mit nachfolgender Bestrafung. Anstiftung zur Gefährdung und Sachbeschädigung.«

Herr Schuster hebt die Hand und verhindert, dass sein Klient etwas sagt, »haben Sie eine schriftliche Anklage gegen uns vorliegen? Von der Staatsanwaltschaft hat mich bisher nichts erreicht.«

»Unser primäres Anliegen ist die Aufklärung des Mords an Herrn Messner, daher bitten wir um Kooperation«, entgegne ich kühl.

»Unterstellen Sie mir, ihn umgebracht zu haben?«, schießt Herr Lester über das Ziel hinaus.

»Haben Sie?«, erwidere ich trocken. Er schweigt. Lehnt sich leicht nach hinten, streicht sich über sein Gesicht und sagt nichts.

»Solche Anschuldigungen will ich nicht hören. Legen Sie uns eine Anzeige oder Anklage vor, dann besprechen wir das vor Gericht!«

Die Gesichtsfarbe von Herrn Lester ist ihm entwichen und seine Züge wirken nicht mehr so fröhlich. Ich denke, er realisiert gerade, worum es hier wirklich geht.

»Nein, ich habe ihn nicht umgebracht«, bringt er hervor und wird für alles Weitere von seinem Anwalt unterbrochen: »Melden Sie sich wieder, wenn Sie etwas Handfestes haben.«

Er steht auf, zieht seinen leicht abwesenden Klienten hoch und sie verlassen den Raum.

Ray begleitet sie und ich bleibe einfach sitzen.

 

Es lief, wie ich erwartet habe. Zumindest war das eins von vielen Szenarien. Dennoch ernüchternd. Selbst wenn das alles so war, wie Jessica erzählte, dass Simon gemobbt wurde oder vielleicht noch schlimmer, suchen wir immer noch den Mörder. 

Mir gegenüber saß nicht sein Mörder.