Verlorenes Damespiel?


Ich überlege, ob ich nicht noch einmal zu Alexandra fahren soll. Aber mit welchen Fragen und was erwarte ich? Sie wird mir auch nicht sagen können, wie ich unseren Organkünstler finde.

Blöder Name. In der Besprechung ist dieser gerade gefallen und ich ahne Melos Einfluss bei der Namensfindung. Melinda hat versucht, die Kindheit unseres Mörders nachzustellen, aber ihre Äußerungen glichen mehr einem Ratespiel.

 

Ich verbiege beinahe meine Stuhllehne und starre an die Decke. So habe ich mir meinen eigenen Fall nicht vorgestellt. Unser Chef sagt auch, dass es tatsächlich ungewöhnlich ist und die meisten Mordfälle sind einfach zu lösen. Hier gibt es jedoch keine Anhaltspunkte. Keine Freunde, Partner oder Rivalen. Wir sind auch nicht in einer Stadt wie Berlin, in welchen Gangs einzelne Viertel besetzen und Kämpfe austragen. Zum zehnten Mal seufze ich.

Dann klingelt das Telefon und ich hebe blitzschnell ab: »Mordkommission Growe.«

»Günther Dahle, Ihr Lieblingsjournalist«, erklingt die Stimme, geziert von einem unüberhörbaren Grinsen. »Aber natürlich«, entgegne ich weniger enthusiastisch.

»Naaa«, versucht er mir etwas zu entlocken und wird mit Schweigen bestraft.

»Irgendwas für mich? Geht ja ganz schön heiß her mit ihrem zweiten Mordopfer. Können Sie mir etwas zu den Mobbingvorwürfen mitteilen?«, lockt er mich aus der Reserve. 

»Woher wissen Sie davon?«, gewinnt er.

»Ach, hier und da zwitschert ein Vogel.«

»Schicken Sie mir gerne den Vogel vorbei«, scherze ich. Gedanklich gehe ich die Möglichkeiten durch, von wem könnte er die Info haben? Die Anzahl der Menschen ist zu hoch.

»Meine Quellen bleiben geheim.«

»Diesen Satz merke ich mir, falls Sie wieder etwas wissen möchten«, starte ich, versuche dann aber mehr zu erfahren: »Haben Sie konkrete Geschichten gehört zum Mobbing gegenüber unserem Opfer?«

Er seufzt, »ein Gespräch mit Ihnen fühlt sich immer wie ein Dame-Spiel an.«

Ich lache auf, »na dann, machen Sie Ihren Zug.«

»Einige seiner Mitschüler haben davon erzählt. Auch ein paar Lehrer. Leider nur vom Hörensagen«, erwidert er bedacht. 

»Verstehe. Also haben Sie auch keine Beweise dafür?«, wähle ich meine Worte mit Absicht so.

»Das nicht, aber ich habe den Eindruck, dass Simon in einem tiefen Loch saß und vielleicht den Weg selbst nicht herausgefunden hat.«

»Was wollen Sie mir damit sagen?«, hake ich nach.

 

Herr Dahle brummt etwas, was sich als Nachdenken herausstellte, »an seiner Stelle hätte ich versucht, mit irgendjemanden zu reden. Die Eltern fallen weg, Mitschüler - Fehlanzeige. Freunde? Hatte er keine, soweit ich weiß. Ich würde in den anonymen Weiten des Internets suchen, sei auch nur, um mich auszukotzen.«

»Gar keine dumme Schlussfolgerung«, stichele ich und verliere eine Figur auf unserem Spielfeld.

»Welche Optionen gibt es heutzutage?«, ergänze ich und warte gespannt auf seinen Zug. 

»Müsstet ihr das nicht wissen? Ihr habt doch seine elektronischen Geräte.«

Er ist gut in diesem Spiel. Nächstes Mal sollte ich vorsichtiger bei der Auswahl meines Gegners sein. »Bitte im Vertrauen …«, leiere ich die Floskel runter, werde aber direkt unterbrochen: »Aber natürlich!« Ich höre, wie er grinst. Die Frage ist nur, kann ich ihm trauen?

Er scheint mein Zögern zu bemerken und möchte schon etwas sagen, doch dieses Mal unterbreche ich den Ansatz: »Alles gut. Tatsächlich ist das Smartphone der Opfer jeweils verschwunden. In Simons Fall ist der Laptop vollständig zerstört. Beim ersten Opfer konnten wir keine Hinweise in den Geräten finden. Keine auffälligen Seiten oder Ähnliches.«

»Okay, sehr interessant. Aber warum sucht Ihr auch nach auffälligen Seiten, was verstehen Sie darunter?«

Das ist ein guter Einwand. Was habe ich erwartet, zu finden? www.wosindFreunde.de? Oder www.ichsucheKontakt.de? Ich seufze hörbar, sehe auf mein imaginäres Spielbrett und entdecke nur noch wenige Steine auf meiner Seite.

»Es könnten Foren sein oder Plattformen wie reddit, Jodel, einzelne Gruppen in Facebook, vielleicht hat sich Simon auch an Onlineberatungen gewendet, davon gibt es auch einige Seiten, die zu seinem Alter passen.«

»Und wie findet man jemanden, der dort anonym unterwegs gewesen sein soll?«

»Jodel könnte Sie dabei unterstützen und Sie könnten einen Aufruf starten. Ich kann meine Angestellten auf Facebook und reddit ansetzen, wenn Sie möchten.«

Will ich das? Eigentlich nicht, aber mir bleibt nicht viel Wahl, obwohl …: »Das kläre ich mit meinem Team.«

»Wie würden Sie das gestalten?«, füge ich hinzu. Facebook meide ich, das ist sowieso nicht gerne gesehen in meinem Beruf. Die anderen beiden Plattformen kenne ich nicht.

 

»Wir suchen im Auftrag der Polizei Menschen, die Kontakt zu einem 18-jährigen Mann, hatten, welcher sich ggf. über Mobbingfälle in der Baufirma beklagt hat«, spricht er ausformuliert und ich notiere es grob mit, völlig überrascht von der fertigen Lösung.

»Sie scheinen das bereits geplant zu haben«, mutmaße ich trocken.

»Vielleicht«, entgegnet er keck und gewinnt unser Damespiel.

Geschlagen seufze ich. »Melden Sie sich bitte umgehend, sobald jemand auf Ihre Anzeige reagiert«, bitte ich darum. Während ich darauf warte, dass das Gespräch ein Ende findet, googel ich nach ‚Jodel‘.

»Haben Sie noch irgendwas für mich?«, erklingt seine Stimme, sich des Sieges bewusst.

»Nein, tatsächlich nicht. Ich danke für den Hinweis und werde mich umgehend damit befassen.«

Er seufzt. »Ich melde mich wieder«, gibt er sich geschlagen und legt auf.

 

»Sabeth, die Eltern von Sabrina fragen, ob wir die Leiche freigeben, damit Sie die Beerdigung abhalten können«, erscheint Ray in meinem Büro, als ich den Hörer zurücklege.

»Störe ich?«, entschuldigt er sich sofort. 

»Nein«, gebe ich trocken von mir. »Rede mit Melo, ich wüsste nicht, inwiefern uns die Leiche noch behilflich sein kann. Er soll sicherheitshalber nochmal alles genauestens überprüfen.«

Ray zieht eine Augenbraue hoch. »Das soll ich ihm sagen?«, fragt er ungläubig.

Ich korrigiere mich: »Ah nein, bitte Franz darum, noch einmal darüber zu sehen.«

»Ist das dein ernst?«, bleibt er ungläubig. 

»Ja.«

»Du darfst dann mit Melo reden.«

»Kein Problem.«

Ray sieht mich noch etwas länger an, dann verlässt er kopfschüttelnd mein Büro.

In der nächsten Stunde sehe ich mir die App Jodel genauer an, dazu erstelle ich mir auch einen Account auf meinem Diensthandy.

 

Vor dem nächsten Telefonat erlaube ich mir eine Tasse Kaffee. Oder heute einmal was ganz Verrücktes: Cappuccino. 

»Was höre ich da, du traust mir nicht mehr?«, kommt Melo in die Küche und spricht mich übertrieben dramatisch an.

»Was sehe ich da? Ein Gespenst, welches aus dem Keller gestiegen ist«, entgegne ich, bemüht ein Grinsen zu unterdrücken. Er fängt an, zu lachen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Ray ebenfalls hereinkommen wollte, aber zögert, als er uns sieht. 

»Du darfst ruhig rein, Ray. Wir sind doch alle erwachsen.« 

»Sicher doch«, stimmt mir Melo zu und lässt das Wasser kochen. Soweit ich weiß, ist er Teetrinker. »Pfefferminz’?«, frage ich und richte die Tasse für ihn her.

Überraschung blitzt auf, dann grinst er leicht, »richtig.«

»Und es ist alles gut bei euch?«, versucht es Ray vorsichtig. 

»Natürlich. Elisabeth möchte einfach sichergehen. Das kann ich verstehen«, bestätigt Melo und ich nicke abwesend. 

»Hat Franz irgendwas gefunden?«, verhindere ich die aufkommende Stille.

»Ich glaube, er wollte jetzt dann anfangen.«

Als das Wasser fertig ist, kippe ich es in Melos Tasse und reiche sie ihm. Er mustert mich, grinst leicht, riecht am Tee, bedankt sich und verschwindet wieder.

Ich schnappe mir meinen Cappuccino und entziehe mich den umherstreifenden Menschen.

Leider nur kurz, um meine Tasse abzustellen, dann wende ich mich dem Team zu und setze zwei darauf an, in den sozialen Medien nach möglichen Kontakten von Simon Ausschau zu halten.

»Reddit, Facebook und was es noch alles gibt. Vielleicht hat er anonym etwas gepostet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit dem ganzen Mist immer alleine gewesen ist. Zumal es nicht sein kann, dass sein Handy weg ist, wenn es keine Rückschlüsse auf etwas gibt.«

Die Zwei nicken kräftig und tippen in den PC. Ich suche derweil unseren ITler und checke nochmal die Webseiten von Sabrina. Vielleicht hat Günther recht und es sind einfache Foren. Irgendwas müssen wir doch übersehen haben.

 

»Hast du die Webseiten gecheckt? Irgendwas Normales, was uns helfen könnte?«, frage ich ihn daraufhin.

»Normales?«, hinterfragt er. Ich nicke, »ja, vielleicht war sie in Foren …«, er unterbricht mich:

»War sie. Primär in Rechtsforen, aber ich habe auch eine für Burnout gesehen, wobei das eher eine Unterkategorie von einer anderen war. Moment.«

Er setzt sich dahinter und seine Finger fliegen über die Tasten. Kurz darauf öffnet er die Seite:

www.psychic.de. »Das war eigentlich gelöscht, aber ich konnte es zurücksetzen und die letzte Chronik aufrufen. Dort war es dabei. Das wurde mehrmals am Tag geöffnet, ungefähr ab 2 Wochen vor ihrem Todestag.«

»Okay, ja, wir haben schon vermutet, dass es ihr nicht so gut geht. Kannst du herausfinden, welchen Nick sie hatte?«

Er schüttelt den Kopf, »nein, wird schwierig.«

»Andere Seiten?«, setze ich nach, unwissend, wonach ich eigentlich suche.

»Ich erstelle dir eine Liste bis heute Abend oder morgen.«

Seufzend gebe ich ein flüchtiges Danke von mir und gehe zu meinem Cappuccino.

 

Als ich die Nummer heraussuchen will, stelle ich fest, dass es keine zu finden gibt. Selbst die Eingabe »Jodel Telefonnummer«, verweist mich nur auf deren Impressum. 

Gut, dann nutze ich eben die E-Mail für »Polizei und Behörden«, frage mich aber, ob das nicht viel zu lange dauern wird.

Vielleicht sollte ich einfach so einen Aufruf starten?

Die Mail schicke ich ab und öffne Jodel. Standortfreigabe erteilt. Erstellen.

»Wir suchen im Namen der Polizei Menschen, die Kontakt zu einem 18-jährigen Mann, hatten, welcher sich ggf. über Mobbingfälle in einer Baufirma beklagt hat.«

Den Ort schreibe ich sicherheitshalber noch dazu, wer weiß, wie weit dieser Jodel angezeigt wird. 

Senden.

Abwarten und Cappuccino trinken.

 

Mein Telefon klingelt, »Schwester.«

Warum ruft sie während der Arbeitszeit an? Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits abends ist, 18:27 Uhr. »Ja, hallo?«, grüße ich.

»Wo bist du?«, klingt ihre Stimme gestresst. 

»Alles in Ordnung?«, werde ich hellhörig und richte mich gerade auf.

»Nein, Papa hatte einen Schlaganfall. Wir sind gerade im Krankenhaus.«

Stille. Oh. »Oh«, bringe ich laut hervor.

»Ich komme gleich.«