Der Journalist


»Oh, Frau Growe, was verschafft mir die Ehre? Und Herr Garry. Gleich doppelter Besuch«, begrüßt uns Günther mit einem Grinsen. Er sieht nicht besonders überrascht aus.

»Wie geht es ihrem Vater?«, provoziert er mit Absicht und ich kann meine Überraschung nur schwer verbergen. Woher weiß der das schon wieder?

»Sie wissen schon, dass Sie sich äußerst verdächtig machen, mit dem ganzen Wissen, mit welchem Sie so offen um sich werfen, oder?«, entgegne ich bestimmt.

Locker und lässig zuckt er mit den Schultern, »Sie wissen doch, was mein Job ist und ohne Daten und Fakten kann ich keine authentischen Berichte abliefern.«

Innerlich mache ich mir eine Notiz, dass ich unbedingt Artikel und Berichte von ihm lesen muss, ich ahne, dass er ein sehr korrekter, detaillierter und ehrlicher Journalist ist. Die Agentur hier hat auch keinen schlechten Ruf.

 

»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, schaltet sich Ray ein, leicht verwirrt über unseren Umgang miteinander. Gleichzeitig sehe ich aber einen Funken in seinem Blick. Verdächtigt er ihn auch?

»Für Sie nehme ich mir die Zeit«, erwidert er, fixiert jedoch nur mich, wendet sich dann ab und deutet uns, ihm zu folgen. In einer kleinen Abstellkammer nehmen wir Platz und ich frage direkt, ob sich bereits jemand auf die Anzeigen gemeldet hat.

Anstatt darauf zu antworten, stellt er die ähnliche Gegenfrage: »Klappt es mit Jodel?«

Ich verdrehe meine Augen und bleibe genauso schweigsam wie er. Ray mischt sich zum Glück nicht in unser Revanche-Spiel ein. Nach wenigen Minuten schnalzt er, seufzt und spricht endlich: »Njein. Ein paar haben sich gemeldet, was zunächst vielversprechend klang. Aber nach genauerer Überprüfung stellte sich heraus, dass es entweder Menschen waren, die sensationsgeil sind und vertrauliche Infos wollten oder jene, die sich vertan haben.«

»Wie konnten Sie die Spreu vom Weizen trennen?«

»Durch simple Fragen«, entgegnet er trocken. 

»Welche denn?«, wird Ray hellhörig und ich nicke schwach. 

Wieder seufzt er ausgiebig, mustert vor allem mich und scheint - vermutlich gespielt - darüber nachzudenken, was er uns sagt. Ich glaube, er genießt es uns so vorzuführen und sieht das ganze wirklich als Spiel, weshalb ich seinen Ansatz mit meinen Worten unterbreche: »Wir können die ganze Angelegenheit auch gerne im Revier besprechen, wenn Ihnen das lieber ist. Ich hoffe Ihnen ist bewusst, dass es hier um Menschenleben geht!«

Tatsächlich hat ihn das etwas getroffen, denn das leicht verspielte Funkeln in seinen Augen war für einen kurzen Moment verschwunden.

»Aber nicht doch, ich wollte mich gerade erklären«, antwortet er und gestikuliert beschwichtigend.

 

»Simon Messner hatte gemäß unseren Daten keine Freunde und das haben wir genutzt, um bestimmte Dinge abzufragen. Ein paar scheinen das geahnt zu haben, daher haben wir andere Details aus seinem Leben gefragt, vieles dabei dazugedichtet. Immerhin wissen wir fast nichts über ihn«, gegen Ende grinst er leicht und die Aussage hat einen leicht ironischen Touch.

»Was wissen Sie denn alles über ihn?«, hake ich genau da rein, wo er vermutlich beabsichtigte.

»Dies und das.«

Ich verdrehe die Augen und stehe auf, »dürfen wir uns umsehen und mit Ihrem Team reden?«, bitte ich. »Aber natürlich.«

Wenn Herr Dahle nicht mit uns kooperieren will, wird es schwierig. Wir können ihn vorladen, aber dann wird er schweigen und einen Anwalt einschalten. Auf der anderen Ebene wird er von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen und seine Quellen schützen. Der einzige Weg wäre, wenn wir durch die Information ein anderes Leben retten könnten, aber da wir nur mutmaßen, dass am Dienstag erneut jemand stirbt, wird das schwierig. Zumal auch nicht ersichtlich ist, wie irgendeine Aussage von ihm etwas verhindert.

Wir verlassen den Schuhkarton und ich orientiere mich etwas. Im großen Büro sind einige Tische zusammengestellt, mehrere Angestellte, die telefonieren, sortieren, Notizen machen.

In meinem Kopf sah das immer so altertümlich aus, total laut, weil noch auf die alten Schreibmaschinen gehämmert wird, selbstverständlich mit ollen Kabeltelefonen. Natürlich ist dieses Bild nur fiktiv und ich muss schmunzeln. Traurigerweise sind sie hier deutlich moderner unterwegs als im Revier. Herr Dahle zeigt uns, wer für ihn zuständig ist und wir begrüßen sie. Sie sehen jedoch nur kurz auf, nicken schwach und arbeiten weiter. Ein Angestellter will gerade Platz nehmen, welchen ich abfange: »Hi, entschuldigen Sie, haben Sie kurz ‘ne Minute?«

Prüfend sieht er mich an, dann stillschweigend fragend zu Herrn Dahle, welcher nickt und willigt ein. Er reicht mir die Hand, grinst, weil er mich abgescannt hat und stellt sich als ‘Chris’ vor. »Äh, Christian Meier, meine ich«, korrigiert er, als ihm wieder bewusst wird, dass wir von der Polizei sind und nicht nur ein Kostüm tragen. 

»Sprichst du nochmal mit Günther?«, flüstere ich zu Ray und nicke in seine Richtung. Er redet gerade mit einer Angestellten, scheint uns aber trotzdem zu beobachten. Mein Partner nickt und ich verzieh’ mich mit Chris in die Abstellkammer.

 

»Sagen Sie, ist Herr Dahle ein guter Chef?«, frage ich direkt.

Er wirkt etwas eingeschüchtert und überlegt, gewinnt aber schnell seine Fassung zurück:

»Er ist nicht der Chef, sondern unser Leiter und wir arbeiten sehr gerne für ihn.«

Ich mache klar, dass er weiterreden soll, »er ist sehr nett, zuvorkommend und ein angenehmer Arbeitspartner. Bisher sogar der Beste.«

»Woran arbeiten Sie im Moment?«, erhoffe ich mir so, einen Einblick zu erhalten.

Unsicher meidet er den Augenkontakt, »ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber reden darf.«

»Menschen sind gestorben und wir müssen schnell herausfinden, wer das war. Falls sie irgendwas wissen oder erfahren haben …«, ich stoppe, sehe raus und erzeuge so künstlichen Stress, »... dann wäre es wichtig, wenn Sie mir das jetzt mitteilen.«

Es wirkt so, als würde ich es geschafft haben. Chris ist noch nervöser, sieht sich um und knetet seine Hände. Offenbar wissen sie wirklich etwas. 

»Denken Sie, dass der Täter bald wieder jemanden umbringt?«, versucht er, den Ernst der Lage bestätigt zu wissen. »Wäre möglich. Was können Sie uns zu Sabrina oder Simon sagen?«

Ich warte kurz, dann füge ich hinzu: »Was wissen Sie?«

Geschlagen seufzt er, lässt sich auf den Stuhl fallen und meint:

»Simon wurde sehr gemobbt, ich glaube, dass ihn das kaputt gemacht hat. Auch frühere Arbeitgeber haben bestätigt, wie es in der Firma zugeht.«

Erleichtert blickt er auf, »denken Sie, die Firma hat etwas mit seinem Tod zu tun?«

Seine Schultern zucken, »würde mich nicht wundern, es scheint, als hätten sie ihn gehasst.«

»Es scheint?«, hake ich nach, doch dann wird die Türe aufgerissen und Herr Dahle steht im Rahmen. »Danke, Chris, ich übernehme wieder.«

Der nonverbale Austausch zwischen den beiden beinhaltet diverse Gefühle, vom Ertappt-werden bis zur Entschuldigung und Vergebung.

 

»Herr Dahle, kommen Sie schon. Sie wissen doch eindeutig etwas«, versuche ich ihn zu bearbeiten. Gleichzeitig spüre ich, dass er mir nichts verraten wird, wenn er es nicht will.

Er seufzt, theatralisch beinahe, zeigt auf den Platz und ich setze mich, während er es sich auf seinem Stuhl bequem macht. Ray scheint sich noch draußen umzusehen.

»Ja, wir haben mit aktuellen und ehemaligen Angestellten der Kraaz GmbH gesprochen. Und sind bei einigen sogar durchgedrungen. Bei den Ex-Mitarbeitern war es etwas einfacher, ein z.B. Herr Braun gab unmissverständlich zu verstehen, dass es dort immer mindestens ein Opfer gab. Damals war er es, auch wenn das schon 8 Jahre her ist.«

»War er dort Azubi? Und wie seid ihr an den Kontakt gekommen?«

»Ja, ganz einfach: Durch gezielte Anzeigen in Facebook, Insta und im Wochenblatt, in welchen wir explizit nach ehemaligen Mitarbeitern der Firma gesucht haben.«

Warum haben wir das nicht gemacht?

»Und darauf hat er reagiert?«, frage ich dümmlich nach, doch Herr Dahle schüttelt den Kopf.

»Sein Freund tatsächlich. Und daraufhin hat er sich gemeldet. Wir haben dann mindestens eine Stunde geredet, in welcher er mir einige der kranken und bizarren Mobbingereignisse schilderte. Simon ging es im Vergleich noch relativ gut.«

»Woher wissen Sie, was mit Simon war?«, setze ich nach.

»Das hat uns die Reinigungskraft der Firma berichtet. Ich bin ihr dort rein zufällig begegnet und habe mit ihr im Vertrauen gesprochen. Natürlich soll das auch so bleiben.«

»Möchte keiner aussagen und dem Unternehmen den Teppich unter den Füßen wegziehen?«

 

Der Journalist lacht auf, »wäre schön. Eine schöne Schlagzeile: Kollektive Anzeige wegen gravierender Mobbingfälle.«

»Oder Kraaz reißt aus - Mobbingarbeitgeber Nummer 1.«

Er lacht wieder, beruhigt sich jedoch schnell wieder und schüttelt den Kopf, »Nein, sie wollen nicht aussagen. Und Sie wissen auch gar nichts von Ihnen«, beendet er und sieht mich eindringlich an. »Ich verstehe.«

Ray schaut rein und ich versuche es noch einmal: »Denken Sie, ähnlich wie Chris, dass es jemand aus der Firma war? Immerhin ist Ihnen bekannt, dass die Kraaz GmbH etwas mit der Baustelle vom ersten Opfer zu tun hat, wenn auch in weitgehendem Sinn.«

Scheinbar hat er das nicht gewusst, denn Interesse blitzt auf, verschwindet wieder und er denkt nach. »Tatsächlich glaube ich das nicht. Die Kraaz GmbH ist einfach ein Scheiß-Laden, in welchem sich Scheiß-Menschen sammeln und auf anderen rumhacken. Die Person aber umbringen - nein, dazu sehe ich dort keinen Grund. Im Gegenteil …«, er pausiert und überlegt weiter. Dabei weiß ich nicht, ob er darüber nachdenkt, ob er den Satz aussprechen soll oder überlegt, was er sagen will.

Offenbar gewinnt die Vernunft: »... sie würden sich doch nur noch mehr Probleme machen. Mein Eindruck ist ja eher, dass sie bemüht sind, alles zu vertuschen und geheim zu halten. Warum also durch einen Mord alles aufdecken?«

Guter Punkt, dass es gerade Simon traf, war das Schlimmste, was dem Unternehmen passieren konnte.

 

Zurück im Auto lasse ich mich erstmal in den Sitz fallen und atme aus.

»Schon komisch, das Ganze«, meint Ray, der nur einen Teil mitbekommen hat. Ich beschließe schweigend loszufahren. Doch statt im Revier, lande ich im Wald, beim zweiten Tatort. 

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hat es mich hierhergezogen. Ray versteht es auch nicht ganz, sagt aber nichts. Als der Motor aus ist, erzähle ich ihm, was Günther mir mitgeteilt hat. Den Pulspegel von ihm kann ich nahezu ablesen, wie bei einem Thermometer und ich kann es verstehen. »Daran können wir nichts ändern.«

»Warum haben wir sie nicht gefunden? Vielleicht hätten wir mehr erreicht? Sie dazu bewogen auszusagen gegen diesen …«, er will es nicht aussprechen, aber die Abscheu ist ihm ins Gesicht geschrieben. »... gegen diesen Arsch?«, drösel ich es auf und er bestätigt. »Ja, sowas von Arsch!«

Manchmal tut es gut, alles auskotzen und so komme ich auf die Idee, das mit ihm jetzt und hier zu tun.

»Komm, ich hab eine Idee!«

Zuerst gehen wir die Gegend ab, um zu prüfen, dass keiner hier ist und als sich das bestätigt, meine ich: »Lass uns alles raushauen, was uns gerade stört. Ohne nachzudenken. Wer weiß, vielleicht fällt uns so irgendwas auf oder ein.«

Er sieht mich perplex und fragend an, aber ich ignoriere das und fange an:

»Der Scheiß-Journalist spielt mit uns!«

»Warum ist Simon tot?«

»Was hat das mit Sabrina zu tun?«

Ray schnallt es langsam und fängt noch leise an: »Was hat Simons Tod mit Sabrinas zu tun?«

Ich werde lauter: »Woher weiß der Journalist so viel?«

»Mich kotzt es an, dass wir nichts finden.«

»Kann der Täter keine Spuren hinterlassen - zefix«, wird Ray endlich lauter.

Wir laufen dabei um den ersten Weiher, betrachten die Spiegelung und die untergehende Sonne darin. »Drecks Kraaz GmbH!«, schreit Ray. »Scheiß Mobbing!«, hängt er an.

»Warum Mord?«

»Was bringt dem Täter das?«

»Warum dienstags?«

»Ich weiß nichts.«

»Da ist nichts!« 

»Da kann nicht nichts sein!«, antwortet Ray.

»Warum finden wir dann nichts?«, schreie ich ihm entgegen, als wir uns einander zuwenden.

»Weil es nichts gibt.«

»Doch die Baufirma!«

»Zufall.«

»Warum ‘ne Schlange?«

»Warum ein Igel?«

»Warum die scheiß Notizen?«

Ich spüre, wie mein Ärger langsam abebbt.

»Ich schaffe das nicht«, werde ich leiser, frustrierter und Ray bemerkt es natürlich sofort.

»Warum passieren Unfälle!«, ruft er noch ein letztes Mal und ich sehe ihm in die Augen. Er fängt meinen Blick auf, doch ich ertrage das nicht und wende meinen ab. 

Gekonnt überbrückt er die Distanz und nimmt mich kurz in den Arm. Hier. Versteckt am Rande des Stegs, welcher den ersten vom zweiten Weiher trennt und uns keiner sieht.

Sicher - unerlaubt und auf eine Art wohltuend.

»Er wird sicher wieder gesund«, flüstert er und mir kommen die Tränen. Aber das erlaube ich mir nicht, ich entziehe mich aus seinem Griff und gehe in Richtung Tatort.