Schlaflose Nacht & das Maus-Duo


Ich kann nicht einschlafen, das ungute Gefühl, dass wir mit unserer Vermutung richtig liegen, hält mich wach. 

Wo schlägt der Täter zu? 

Wer ist das Opfer?

Was wird uns am nächsten Morgen präsentiert?

Wird es überhaupt so früh gefunden?

Ich drehe mich wieder um, schließe meine Augen und versuche erneut einzuschlafen. Vergebens.

Gequält schlage ich die Decke auf, greife zu meinem Handy, 02:04 Uhr. Ich schleppe mich zur kleinen Küche, schalte den Wasserkocher ein und bereite eine Tasse Kaffee vor. Innerlich habe ich die Vorstellung von Schlaf bereits verworfen.

»Bist du wach?«, steht auf meinem Handy von Ray. Ein Grinsen ziert mein Gesicht, er steht wohl unter derselben Spannung wie ich. Die Frage ist, wie effektiv wäre es, wenn wir uns zusammentun? Ist das überhaupt sinnvoll, meinen Gedanken in die Tat umzusetzen und planlos durch die Gegend zu fahren? Bringt es etwas, wenn zwei übermüdete, aber unter Strom stehende Polizisten durch die Stadt fahren und - auf was eigentlich - achten?

»Uns hindert derselbe Geist am Schlafen, was?«, antworte ich. Er schickt einen Sticker mit lachendem Geist. Anschließend eine Tasse Kaffee. Ich mache ein Foto von meiner reellen Tasse und sende sie. »Bin in 20 Minuten da.«

Unkommentiert nehme ich auf der Couch Platz und überlege. 

Überlege, was wir jetzt tun. Wahllos durch die Stadt fahren, macht überhaupt keinen Sinn. Aber hier herumsitzen und Däumchen drehen auch nicht. 

 

Da ich zu keinem Ergebnis komme und Ray schon parkt, schalte ich den Wasserkocher erneut ein. Wenn ich so recht überlege, war er bisher noch nicht in meiner Wohnung und ein kurzes Zögern, ob ich ihn heute reinlasse, sorgt dafür, dass er anklopft. 

Geschlagen seufze ich und öffne die Türe, »guten Abend, der Herr«, scherze ich, ohne in dem passenden Modus zu sein. Er grinst leicht, scheint jedoch ebenfalls zu zögern, ehe er eintritt.

»Deine Tasse ist gleich fertig. Was hält deine Frau von deinem nächtlichen Ausflug?«, starte ich ein Gespräch. »Das erfahre ich wohl morgen«, gibt er schwach von sich.

»Der alte Zettel-Move?«, witzle ich nun doch ehrlich. 

»Mhm«, meint er und grinst gespielt unschuldig, als ich ihm den Kaffee reiche. 

»Gut, dass sie uns keine Affäre unterstellt«, bringe ich hervor und könnte mich kurz darauf selbst facepalmen. Sowas würde ich nie sagen. Hallo? Hirn! Wir sind Kollegen und ich will nichts von ihm - es gibt nichts Abturnenderes wie einen glücklichen und verheirateten Mann.

Ich schiebe es auf meinen Schlafmangel und entschuldige mich bei Ray.

»Hat sie schon …«, antwortet er fast zeitgleich. Ich seufze wieder - das wievielte Mal heute?

Unangenehmes Schweigen breitet sich zwischen uns aus, keiner weiß, was er sagen soll.

»Es klingt vielleicht grob, aber in erster Linie ist es ihr Problem«, bricht dann doch er das Schweigen und ich horche auf, bereit, die Frau zu verteidigen. »Aber?«, hoffe ich auf eine Fortsetzung.

»Nichts aber. Eifersucht ist in Ordnung. Ich komme damit klar und helfe ihr auch, die extremeren Tendenzen aufzulösen. Sowas braucht Zeit.«

»Da ist unsere enge Zusammenarbeit garantiert nicht hilfreich.«

Seine Ansicht ist gut, psychologisch gesund, zumindest wenn ich es richtig verstehe.

 

 

Eine Stunde und zwei Tassen Kaffee später beschließen wir, doch durch die Gegend zu fahren. Leider hat Ray, genauso wie ich, keine Idee, wo wir hinfahren sollen. Wir steuern deshalb die alten Tatorte an. »Wann war nochmal der Todeszeitpunkt von Simon?«, frage ich meinen Partner, der solche Daten viel besser im Kopf behält als ich.

»Zwischen 5:30 und 6 Uhr, bei Sabrina war es früher, so gegen 4 Uhr.«

»Die Zeit von Simon ist noch relativ human, vermutlich wollte er spazieren gehen, bevor er zur Arbeit geht.«

»Sofern er draußen war«, wirft Ray ein. Aber das verwerfe ich, weil wir keine Einbruchspuren gefunden haben. 

»Sabrina hingegen muss dann nachts unterwegs gewesen sein, wie wir jetzt, wenn nicht sogar früher, immerhin starb sie ja gegen 4 Uhr.«

»Ja, schon seltsam. Auf der anderen Seite passt das mit ihrem Alkoholspiegel zusammen.«

Müde schaue ich nach draußen - es ist schön ruhig zu dieser Zeit. Wenig Verkehr, die Stadt leuchtet bunt. Ich bin ihm dankbar, dass wir nicht über meinen Vater sprechen, der immer noch im Krankenhaus liegt, aber stabil ist. Seine motorischen Fähigkeiten sind nach wie vor eingeschränkt und Sprechen fällt ihm sehr schwer, als würden die Wörter in seinem Kopf über zehn Umleitungen gerade nur so den Ausweg finden.

 

Drei Stunden später sind wir wieder im Revier, beide mit einem mulmigen Gefühl. Zuvor haben wir noch leicht gefrühstückt, bei einer Bäckerei.

Ich schaue wieder in Jodel rein:

@13: Ja, ich erinnere mich an jemanden, der vor ungefähr ein bis zwei Monaten von seiner Arbeit erzählt hat.

Kurz darauf wird es fortgesetzt: 

@13: Da ging es extrem zu und wir haben uns im Chat ausgetauscht - zu einem Treffen kam es zwar nie, aber wir hatten regelmäßig Kontakt, bis vor wenigen Wochen.

@OJ: Rufen Sie bei uns an @13 oder wie kann ich Sie erreichen?

Anschließend packe ich mein Smartphone weg, der Post ist zwei Stunden her, da kriege ich sicher keine sofortige Antwort. Aber mir fällt ein, dass es noch jemanden gab.

@OJ: Haben Sie schon etwas gehört @3? In der Schule?

 

Ray kommt in mein Büro, sein Ausdruck könnte kaum mehr aussagen; eingefallenes Gesicht, trauriger und gleichzeitig gestresster Blick. »Es wurde jemand gefunden?«, schlussfolgere ich.

Er nickt schweigsam und ich stehe auf und folge ihm. Während der Fahrt - dieses Mal fährt er - sagt niemand etwas. Wir hängen vermutlich beiden unseren nicht greifbaren Gedanken nach.

Ray hält in einem abgelegenen Wohnviertel und ich sehe schon die Polizeiautos, einen RTW und ein Feuerwehrauto. Die Spurensicherung, samt Melo, ist uns gefolgt.

»Im Haus?«, flüstere ich schwach, mein Partner verneint, »Garage«. Wir steigen aus und stehen auf der Straße, die zu sechs Garagen führt. Drei links und drei rechts in Reih’ und Glied. Kurz dachte ich, sowas gibt es bei uns doch kaum und fühle mich in eine der Krimiserien versetzt, die ich in meiner Jugend schaute, bis mir einfällt, dass es relativ gängig ist und es inzwischen schon gestapelte Garagen gibt. Platzprobleme.

Ich sehe, wie einige Menschen draußen stehen, vermutlich die Bewohner. Gerade kommen noch zwei neugierige Leute aus dem Wohnkomplex heraus. Sie trauen sich jedoch nicht zum Tatort - zu ihrem Glück vermutlich.

Um das auch weiterhin zu verhindern, gehe ich zu den zwei Polizisten am Rand, die leicht verstört schauen, weil sie vermutlich die ersten waren, die das Opfer entdeckt haben.

»Guten Morgen, mein Name ist Elisabeth Growe, da hinten ist mein Partner Ray Garry. Entschuldigen Sie, dass ich Sie gleich einspannen muss, aber können Sie darauf achten, dass keiner der Bewohner zu nah zum Tatort gelangt? Später werden Sie noch eingehend über den Fund befragt werden.«

Ich warte gar nicht auf deren Antwort, bedanke mich und gehe gleich weiter.

Sie nicken und stellen sich in einem guten Abstand schützend vor dem Tatort auf.

 

Beim RTW sehe ich einen Zivilisten, männlich, ungefähr 35 Jahre alt, kräftig, sportlich gebaut, noch verstörter als die Polizisten. Vermutlich der Finder. Ich setze Ray auf ihn an und wage mich mit einem unguten Gefühl zum Tatort.

Jeder Schritt, den ich auf die Garage zumache, fühlt sich an, als würde ich durch Sand waten, welcher sich in noch zähflüssigen Beton verwandelt. Meine Schritte verlangsamen und meine Gedanken animieren mich, doch lieber umzudrehen.

Als Melo jedoch neben mir auftaucht, verschwindet der Sand. Ich erhalte von ihm Schutztüten für meine Schuhe und Handschuhe. Der Fotograf der Spurensicherung gibt mir das Go.

 

Meine Professionalität kehrt zurück und er nickt mir zu: »Ich warte draußen, bis du so weit bist.«

Die Spurensicherung sperrt alles ordentlich ab und ein leichtes Chaos bricht hinter mir aus, welches ich ausblende. Ich atme hörbar aus und gehe hinein.

Die Garage ist bis auf die Leiche, ein wenig Werkzeug und Autoreifen, die an der Wand hängen, leer. Ich bin durch das manuelle Rolltor eingetreten, rechts im Eck ist eine Türe, die gerade von einem aus dem Team geöffnet wird, was mich kurz erschreckt. Noch mehr Licht durchflutet den Raum, ich ernte einen entschuldigen Blick und den Kommentar, dass die Türe gar nicht abgeschlossen sei, dann verschwindet er wieder.

Vor mir, mittig, leicht links, sitzt eine Frau an der Wand angelehnt. Ihr linkes Bein ist in einem angedeuteten Schneidersitz angewinkelt, das andere nach rechts ausgestreckt, der Kopf lehnt an der Brust und unterhalb dessen, ist alles offen.

Als hätte jemand einen Reißverschluss an ihrem Körper angebracht, welcher unterhalb der Brust startet und bis zum unteren Bauch reicht. Samt der blutdurchtränkten Kleidung ist die rechte Seite aufgeklappt, in ihrem Schoß liegt ein Organ, welches wie eine Maus aussieht. Ich gehe näher an die Leiche und identifiziere das Organ als Niere, auf der länglichen Seite, zum Körper hin, prangt ein heller Schwanz und vorne steckt etwas, dass die Ohren symbolisieren soll. 

Mir wird schlecht.

Das ganze dampft und sieht, wie bei Sabrina, schockgefroren aus. 

Die Frau hat lange schwarze Haare, der rechte Arm liegt neben ihrem Körper in der Pfütze aus Blut, weshalb nicht viel zu erkennen ist. Doch die linke Hand wurde auf dem Schoß abgelegt, bei genauerem Hinsehen, fällt auf, dass der Daumennagel fehlt und, dass vertrocknetes Blut auf dem Nagelbett ist. Die Schuhe sind auch entfernt und liegen in der Ecke ganz links. Achtlos hingeworfen. Auch dort fehlen die Nägel der großen Zehen, was mir kurz den Atem raubt.

»Dann …«, flüstere ich, beende aber meinen Satz und Gedanken nicht, mache kehrt und bitte Melo mitzukommen. »Du bist schon fertig?«, fragt er, mustert mich dabei, sagt aber dann nichts mehr. Vermutlich spricht mein Gesichtsausdruck Bände.

»Was meinst du?«, sage ich ungeduldig, keine Minute später.

»Da müsste noch eine Maus sein, oder?«, spricht er meine Gedanken aus und ich nicke. Er öffnet die andere Bauchdecke und da hockt sie, im unteren Bauchraum, was mich direkt zur nächsten Frage bringt: »Wo ist eigentlich der Darm?« Gleichzeitig versuche ich, meine Übelkeit zu unterdrücken. Das alles ist so verstörend. 

Melo macht ein zustimmendes Geräusch. Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen und irgendwas stört mich. Das passt nicht zum Täter. Es wurde noch nie etwas - außer das Handy - entwendet. Wo ist der Darm?

»Der Täter hat - das ist faszinierend«, fängt Melo an, schließt die Bauchdecke wieder und fasst kurz die andere Maus an. »Was?«, möchte ich an seine Gedanken teilnehmen.

»Ah… der Täter hat den Harnleiter durch die Rückseite der Niere gefädelt, damit es hier hinten als Schwanz fungiert. Das muss relativ schnell gemacht werden und dann alles schockfrieren - hach. Faszinierend.« Seine Begeisterung kann ich nicht teilen, was meine Mimik vermutlich auch ausdrückt, denn er schüttelt schnell den Kopf und macht ein paar Schritte zurück. Ich entschuldige mich und verlasse die Garage. Draußen freuen sich meine Lungen über die frische Luft und der Gestank verfliegt kurzzeitig. Ray kommt auf mich zu, »ist es unserer?«

Ich nicke, »definitiv.« 

Er macht ein gequältes Gesicht, stattet sich dann mit Schutz aus und geht zu Melo hinein.