Überflutung


Es ist Mittwochnachmittag und ich glaube, mein Kopf explodiert. Während wir bei den anderen beiden Opfern mühsam jede Information zusammenkratzen mussten, prasselt bei Tatjana alles auf uns ein. Zuerst die Freundin gestern, die uns mindestens eine Stunde erzählt hat, wer Tatjana war und wie viel sie ihr bedeutet hat, danach haben wir noch beim Arbeitgeber einiges erfahren und eben war ein Freund von ihr da. Bald kommt eine weitere Freundin, eine, die schon seit der Mittelschule mit ihr befreundet ist.

Aber aktuell versuche ich noch alles zu sortieren und dann steht da immer noch die Frage bezüglich des Darms im Raum. Wo zur Hölle ist der?

Hat unser Täter ihn wirklich mitgenommen? Wofür? Für die nächste Abscheulichkeit in knapp zwei Wochen? 

Mir wird schlecht.

 

»Sabeth?«, Ray kommt rein. Ich blicke auf. »Sie ist da.«

Ich seufze, das wird garantiert anstrengend. Aber vielleicht ist irgendwas dabei, das uns Aufschluss über den Täter gibt.

Nachdem die Begrüßungsfloskeln abgehalten sind und Ray die Personalien aufgenommen hat, können wir endlich starten.

Die Freundin, Ramona Stiel, sieht recht aufgebrezelt aus, jedenfalls für meine Verhältnisse. Lange blonde Haare, welche ihr auf einer Seite über die Schulter fallen, umrahmen ihr wohlgeformtes Gesicht, das eine Mischung aus Herz- und Diamantenform darstellt. Unnötigerweise trägt sie Make-up, welches für zwei Personen reichen würde. Die hochwertige Kleidung; eine lachsfarbene Bluse und darüber einen schwarzen Blazer, sowie eine schwarze Stoffhose runden ihr Business-Auftreten perfekt ab. Neben der diamantförmigen Brille, die perfekt zu ihr passt, trägt sie noch eine Kette und silberne Ohrstecker. Ihr Körper ist äußerst schlank und ihr Auftreten wirkt bewusst. Ich bin mir absolut sicher, dass sie mit ihren Reizen umzugehen weiß. 

 

»Ich finde das so tragisch, was ist passiert und warum?«, ihr Gesichtsausdruck ändert sich, das schwache Lächeln zu Beginn verzieht sich zu einem tieftraurigen Ausdruck.

»Wer war Tatjana für Sie«?, gehe ich nicht darauf ein, immerhin ist es bekannt, dass wir nicht wissen, was passiert ist oder gar warum.

Sie fängt jetzt doch an zu weinen, obwohl sie es versuchte zu vermeiden. Ray schiebt die Taschentuchbox zu ihr. »Sie war meine beste Freundin. Wir haben schon so viel Scheiße zusammen erlebt.«

»Würden Sie sagen, Sie sind die Person, die ihr am nächsten stand?«

Sie nickt, zuerst schwach, dann noch mehr. »Ihre Verwandtschaft ist Abschaum und ihr niemals würdig gewesen. Wir waren wie Schwestern, Vertraute und Therapeuten füreinander.«

Ich horche auf: »Hatte Tatjana Probleme, persönlich, finanziell oder anderweitig?«

Frau Stiel lacht leicht auf, »Tatjana hat Borderline. Probleme sind Alltag.«

Kurz darauf antwortet sie auf die anderen Punkte: »Finanziell schon länger nicht mehr, eigentlich geht es ihr seit längerem wieder recht gut. Sie war mittels Medikamenten gut eingestellt und ging regelmäßig zur Therapie, auch wenn es nur noch einmal im Monat war.«

Das sind Punkte, die die anderen Freunde nicht angesprochen haben. Wussten sie es nicht oder kannten sie Tatjana nicht so gut?

»War das im Freundeskreis nicht bekannt?«, frage ich.

»Nicht bei allen«, sagt sie trocken. 

Ihr Arbeitgeber hat erzählt, dass sie manchmal recht sprunghaft ist, aber gleichzeitig auch sehr kreativ und auf Ideen kommt, die sonst niemandem einfallen. Sei es für Social Media oder andere Arten des Marketings. 

»Hat sie wirklich einen so großen Freundeskreis? Wissen Sie etwas über Streitereien oder andere seltsame Ereignisse?«

Zuerst nickt sie, dann schüttelt sie den Kopf: »Nein, zumindest nichts Aktuelles.«

»Irgendwas Älteres?«

Ihr entgleist ein ironisches Lächeln, »wo soll ich anfangen? Sie müssen wissen, dass Sie durch eine harte Kindheit und Jugend ging …«

Ich unterbreche sie: »Wegen ihrer Eltern?«

»Ja, auch. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung hat sie sich jedoch auch selbst oft in unmögliche und sehr belastende, wenn nicht sogar gefährliche Situationen begeben.«

»Wie lange kennen Sie sich schon?«, möchte ich wissen und bitte sie dann das Gesagte zu erläutern.

»Puh uh… ähm, das müssten jetzt ungefähr 16 Jahre sein, wenn auch mit Unterbrechung.« Nach einer kurzen Trinkpause fährt sie fort: »Sie hat sich mit Jungs abgegeben, die mehr toxisch als sonst irgendwas waren. Zu ihrem Typ hat auch der klassische Badboy gepasst, der sie benutzt und dann wegwirft, wenns zu nervig wird. Nicht selten war sie betrunken, bekifft oder auch mal anderweitig zugedröhnt.«

Ray mischt sich ein: »In der Schule?«

Ramonas Schultern zucken, »ja, hat kaum jemanden interessiert. Ich habe ihr gesagt, sie soll damit aufhören. Unbedingt. Meinetwegen ab und zu mal Alkohol oder Gras, aber alles andere macht’s nur noch schlimmer. Nicht selten hat sie bei mir übernachtet. Aber es gab auch Phasen, da war sie so tief drin, dass es ihr wehtat, mir gegenüberzutreten. Dann ging sie nach Hause oder weiß Gott wo hin.«

»Hat sie Ihnen von der Zeit erzählt?«, hake ich nach. Sie schüttelt den Kopf, »nein, das haben wir mehr oder minder totgeschwiegen. Irgendwann war es auch nicht mehr relevant. Ich konnte ihr helfen, sie kam von den harten Drogen weg.«

»Und von da an, war sie in Therapie?«, hofft Ray. 

»Weit gefehlt. Bis sie dazu bereit war, wurde sie zweimal eingewiesen. Beim zweiten Mal hat es dann ‚klick‘ gemacht. Sie sagte, ein Pfleger dort habe ihr zu denken gegeben.«

»Wie alt war sie da?«, möchte ich wissen und sehe, wie Ray einiges mitschreibt.

»Da war sie so 22. Bis sie jedoch das passende Therapiesetting gefunden hat, hat es noch ein paar Jahre gedauert.«

»Können Sie uns sagen, bei wem sie in Therapie war?«, fragt Ray und tippt mit dem Stift auf den Block. »Und seit wann?«, füge ich an. Ray grinst leicht und sieht kurz zu mir, ehe wir wieder zu ihr blicken.

»Das müsste Dr. Weichelt, ich glaube Frau Dr. Marion Weichelt sein. Dort ist sie schon lange, vermutlich 5 Jahre.«

 

»Sie meinten, Tatjana hat viel erlebt, vor allem in der Kindheit und Jugend, wissen Sie etwas, das erst innerhalb der letzten zwei Jahre war?«, greife ich nach erneuter Trinkpause das Thema wieder auf.

»Sie ist sehr ruhig geworden. Jedenfalls im Vergleich zu damals. Aber das könnte auch am Alter, den Medikamenten und der Tatsache, dass es ihr besser ging, liegen.«

»Wissen Sie, dass es ihr besser ging oder vermuten sie das?«

Zuerst schnaubt sie, als hätte ich sie mit der Frage verärgert, doch sie beruhigt sich sehr schnell und scheint zu realisieren, dass ich es nicht böse meine.

»Sie hat es gesagt und alles hat daraufhin gedeutet. Sie lachte viel, wirkte ausgelassen. Ich kenne sie, wenn sie das nur gespielt hätte, hätte ich das gemerkt. Tatsächlich wirkte sie sogar offener. Es kamen Urlaubsvorschläge von ihr, obwohl sie bisher nicht oft im Urlaub war. Und wir sind letztes Jahr sogar weggeflogen.«

»Selbst wenn sie, das alles vorgespielt haben soll, was ich nicht glaube, der Therapeutin wäre irgendwas anderes aufgefallen. Aber im Gegenteil, seit knapp einem Jahr, haben sie nur noch monatliche Termine.«

Da ich mich nicht so intensiv mit Borderline auskenne, verkneife ich mir die Frage, ob Menschen mit dieser Erkrankung nicht etwas anderes darstellen, als da ist. Wobei mir gerade einfällt, dass es dann doch eher hätte andersrum sein müssen.

»Wie ist Tatjana mit der 1 x im Monat-Umstellung klargekommen?«

Irgendwas blitzt bei Ramona auf: »Anfangs gar nicht gut. Beinahe wäre sie wieder abgerutscht. Aber ich konnte sie tragen und habe ihr immer wieder aufgezeigt, dass sie das dort nicht verliert. Es nur anders ist und andere Personen einen Teil der Rolle übernehmen können.«

 

»Was machen Sie nochmal beruflich?«, bitte ich um die Info, damit ich einschätzen kann, warum sie so reflektiert ist. Oder ist das durch die jahrzehntelange Begleitung entstanden?

»Ich arbeite im Bereich der Wirtschaftspsychologie.«

 Ich nicke, irgendwie passt das zu ihr und ihrem Auftreten.

»Ist Tatjana in einer Beziehung?«, überlege ich, weil das keiner der anderen so genau beantworten konnte. »Aktuell nicht, dass ich wüsste. Sie hat ab und an mal was mit einem Typen, aber das ist sehr sporadisch.«

Langsam nicke ich, denke darüber nach, was ich noch wissen sollte. Aber ich weiß gefühlt so viel, dass mir alles zu den Ohren raus steht. Die Masse an Information übersteigt jene der anderen beiden Opfer zusammen. Wir wissen, dass der Täter höchstwahrscheinlich nicht aus dem Umfeld unserer drei Toten ist. Welche Gemeinsamkeit haben alle?

 

Das Gespräch mit Frau Stiel schließe ich ab und ziehe mich kurz in mein Büro zurück. Mein Partner folgt mir. »Krass«, sagt er. »So viele Daten. Wo sollen wir anfangen?«

»Dort, wo die Fäden der Gemeinsamkeiten zusammenfließen«, sinniere ich. Alles sind Datenstränge, die miteinander verknüpft sind und sie wiederum, sind mit unserem gesuchten Täter verbunden. Er reagiert gar nicht auf meine Wortwahl und scheint auch in seinen Gedanken abzutauchen.

Aus einem Impuls heraus zücke ich das Telefon und rufe zuerst das Gefängnis an, um einen Termin für morgen zu vereinbaren. Anschließend wähle ich die bereits gefundene Nummer von Frau Dr. Weichelt. Doch hier geht keiner ran, der Anrufbeantworter springt an: »Sie rufen an, bei Frau Dr. Weichelt, Psychiaterin. Vielen Dank für Ihren Anruf, bitte melden Sie sich zu unseren Sprechzeiten wieder. Diese sind: Montag-Mittwoch von 12:30 - 14 Uhr. Vielen Dank und noch eine schöne Zeit.« 

Ich lege auf, probiere es gleich nochmal und rede dann auf die Mailbox. Vermutlich kann sie uns auch nicht viel mehr erzählen, aber wer weiß.

 

Ray scheint gar nichts mitbekommen zu haben, denn als ich aufstehe und ihn antippe, zuckt er. »Wie, wo, was hab ich verpasst?«

»Nicht viel. Ich habe einen Termin für das Gefängnis vereinbart. Da fahre ich morgen hin. Die Psychiaterin ist aktuell nicht im Büro, meine Nummer habe ich auf ihrer Mailbox hinterlassen. Jetzt will ich zu Tatjanas Wohnung fahren. Kommst du mit?«

»Gefängnis? Warum?«, ist seine Verwirrung in seinem Gesicht gebrannt.

»Um den Knoten meiner Fäden zu entwirren«, spreche ich in Rätseln und er belässt es dabei.

Die Adresse von ihr haben wir in unseren Akten und die Schlüssel dazu lagen beim Leichnam dabei, deshalb ist es für uns kein Problem, die Wohnung zu untersuchen.

Doch ehe ich einen von der Spurensicherung und Lena einpacke, kommt einer aus dem Team auf mich zu und wedelt mit Dokumenten. »Der Bericht von Melo.«

- Tatjana Reichelt, 31 Jahre. 

- Adressdaten

- Sterbeort = Auffindungsort

- Sterbezeitraum: 05:00-05:30 Uhr

- Todesursache: Genickbruch

- andere wesentliche Todesursachen: Laparotomie bzw. Stoma und Herausnahme des Darms sowie der Nieren (die anschließend präpariert wurden).

- Tod durch fremde Hand: ✔

- Todesart: nicht natürlich

- Auffälligkeiten: alte, verheilte Narben (vermutlich durch Selbstverletzung) an Armen und Beinen sowie ein paar Brandwunden.

Geschwollene Augen (vom Weinen, relativ frisch) und frische Kratzspuren im Nacken (passt zu ihren Nägeln). 

Undefinierbare Fasern im Bereich des Kragens (Analyse läuft).

 

Dazu noch der Toxbericht:

Alkoholkonzentration: 0,7‰

Drogen: -

Medikamente: Benzos