Sabrinas Leiche


Wir beschließen bei Melo vorbeizuschauen, vielleicht hat er schon irgendwas. Gleichzeitig mache ich mir einen inneren Plan, zu Sabrinas Wohnung und anschließend zu ihrem Arbeitgeber zu fahren.  

»Ich hab’ noch nichts«, sagt Melo kühl, kaum hat er mich aus dem Augenwinkel erkannt.  

»Gar nichts? Nicht mal ein bisschen was?«, versuche ich ihn zu ärgern, aber er scheint ernst zu bleiben und ist vertieft darin, Sabrinas Leichnam zu begutachten. Dann blickt er kurz auf: »Das Gehirn konnte noch teilweise gerettet werden und ist inzwischen in einem Glas konserviert.« 

 

Ich warte, ob noch etwas kommt. Auch Ray wartet schweigend. Doch als nichts folgt, sage ich »Uuund?«, in einem drängelnden Ton.  

»Nichts ‘und’, da sind absolut keine Spuren. Weder enthält die Leiche Abwehrspuren, noch gibt es anderweitige Verletzungen, die auf einen Kampf hindeuten. Der Täter hat die Schädeldecke mit der Säbelzahnsäge der Baustelle aufgeschnitten -«, er stoppt, »Ha, doch, da ist was!« Nachdem er sein Besteck abgelegt hat, ruft er uns zu sich und zeigt auf den Rand des Schädels. »Das Opfer hat noch gelebt, als die Säge angesetzt wurde.« 

 

»Moment. Wie das? Ich dachte, ihr wurde das Genick gebrochen?«, hakt Ray nach und ist sichtlich überrascht. Auch ich verfolge aufmerksam die nächsten Worte von Melo: »Das wurde es tatsächlich. Jedoch ist es ein Irrglaube, dass die meisten dadurch sterben. Im Normalfall sind die Betroffenen dann tot, aber hin und wieder kommt es dazu, dass lediglich die Wirbelsäule des Kopfes vom Körper getrennt wird.« Melo wendet sich wieder seiner Untersuchung zu, dabei inspiziert er die Wunde am Oberschenkel. »Sie sollte dennoch nichts gespürt haben, weil sie bewusstlos war und der Rest viel zu schnell ging, um überhaupt wieder aufzuwachen.« Das beruhigt mich. Kaum vorzustellen, dass jemand das miterlebt. »Für den Täter ging es also um einen relativ harmlosen und schnellen Tod? Dabei-«, fange ich an, halte jedoch inne, als ich die Splitter entdecke, die säuberlich auf einem Tisch platziert wurden. »… Geht es nur um die Darstellung«, beendet Ray meinen Satz.  

Ich nicke, das sagt auch einiges über den Täter aus. Oder waren es mehrere?

 

»Ist medizinisches Wissen notwendig, um das Opfer so auszustellen?«, denke ich laut.

»Nein. Heutzutage steht doch alles im Internet. Es gibt sogar Tutorials darüber, wie man das Genick brechen kann. Das Wissen über das Gehirn und dass es nicht sehr lange die Konsistenz behält, könnte auch von einer Serie oder einem Film stammen.« Melo sieht mich an, »lediglich das mit dem Stickstoff, scheint eher eine eigene Herangehensweise zu sein.«

»Muss man dafür geschult sein oder woher bekommt der Täter das?«, ist es Ray, der die gute Frage stellt. Es wäre nicht das erste Mal in der Kriminalgeschichte, dass Täter aufgrund ihrer außergewöhnlichen Herangehensweise überführt werden. Melo grunzt leicht, »flüssigen Stickstoff kriegt jeder Laie, sogar per Post nach Hause geliefert.« Auch wenn diese Information ernüchternd ist, überlege ich, ob es Sinn macht, die Post zu fragen, ob vor kurzem im Umkreis von 100 km Stickstoff angeliefert wurde. Diesen Gedanken verwerfe ich sofort wieder, da die Post kaum wissen wird, was in den Paketen ist. »Ist flüssiger Stickstoff nicht gefährlich?«, verfolgt Ray offenbar eine andere Idee. »Die ADR schreibt bestimmte Behälter und Transportrichtlinien vor. Welche genau, weiß ich nicht. Flüssiger Stickstoff fällt aber definitiv darunter«, sagt Melo ohne auch nur hochzublicken. Vielleicht hatten wir doch den gleichen Ansatz. Die Post wird bestimmt nicht oft Gefahrgut transportieren. »Das ist ein Anhaltspunkt - ich geh’ dann mal recherchieren«, gebe ich von mir und verschwinde. Ray scheint noch bei Melo zu bleiben, weshalb wir ausmachen, dass wir nachmittags zu ihrer Wohnung fahren. 

 

Wieder oben angekommen, fühle ich mich zuerst planlos. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich gerade erst in der Mordkommission angefangen. Dabei bin ich schon zwei Jahre hier. Na gut, in diesen zwei Jahren hatte ich nicht viele große Fälle. Meistens wurde ich unterstützend bei Kollegen eingesetzt. Umso mehr freut und überfordert es mich, jetzt einen eigenen, vielleicht sogar großen Fall zu haben. Immerhin meinte Melo, dass bisher absolut keine Spuren gefunden wurden. Der Täter muss also Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben. Was ist eigentlich mit dem Opfer? Wie ist Sabrina zu der Lagerhalle gekommen? Haben die beiden sich gekannt und ein Auto geteilt? Oder wurde sie völlig überraschend umgebracht und dort ausgestellt? Innerlich schiebe ich diesen Punkt ganz nach oben auf meine To-do-Liste für heute. Dann gehe ich in mein Büro und fahre den Rechner hoch. 

 

Meine Recherche hat ergeben, dass Stickstoff wirklich einfach gekauft werden kann. Gleichzeitig habe ich herausgefunden, dass es in die Gefahrgutklasse 9 fällt und eine spezielle Verpackung bedarf. Ob das ein Anhaltspunkt ist? Ich zucke mit den Schultern und greife zu meinem Headset. Die regionale DHL ist direkt angewählt. Nach diversen Weiterleitungen und Nummerneingaben höre ich endlich einen Menschen sprechen: »Susann Kucko, wie kann ich Ihnen helfen?«

 »Guten Tag, mein Name ist Elisabeth Growe und ich arbeite bei der Mordkommission. Ich ermittle derzeit in einem Fall, in welchem Stickstoff verwendet wurde und wollte daher fragen, ob Sie mir eine Auskunft geben können, ob innerhalb des letzten Monats Gefahrgutkartons der Klasse 9 versendet wurden. Am besten im Radius von 100 km.«

»Tut mir leid, da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, schwups aufgelegt. Ob ich bei DPD, GLS, UPS und Hermes mehr Erfolg habe? Ich wage es zu bezweifeln. Ich versuche es noch einmal bei der DHL, lasse das mit dem Stickstoff jedoch weg.

»Haben Sie einen gerichtlichen Beschluss? Laut DSGVO dürfen wir keine Kundendaten preisgeben.« Ich verneine. Das Gespräch endet. War klar. Einen Beschluss würde ich nicht bekommen, weil es nur eine Idee ist und es keine unmittelbare Gefahr darstellt, Stickstoff zu besitzen. 

 

Ray schaut rein, »und? Lass uns essen gehen.«

Mein Telefon klingelt - warum klingelt mein Telefon? Eine schwache Hoffnung keimt auf, dass der wehrte DHL-Mitarbeiter sich doch erbarmt hat, mir zu helfen oder dass ihm wirklich etwas aufgefallen ist. »Elisabeth Growe - Mordkommission, wie kann ich helfen?«

 Ray legt den Kopf schief und kommt rein. »Günther Dahle hier, ich hätte ein paar Fragen zu ihrem aktuellen Fall.« Ich seufze und verdrehe die Augen. Mein nerviger Lieblings-Journalist. »Aktuell kann ich keine Angaben machen, sobald ich etwas habe, erfahren Sie es natürlich sofort«, sage ich mit einem angehaucht ironischen Unterton.  

»Ach, kommen Sie schon«, versucht er es auf die Kumpeltour. Mir fällt wieder mein Punkt ein und ich drehe den Spieß um, »ach«, äffe ich ihn nach, »gut, dass Sie anrufen, ich hätte eine Frage zum Tatort«, dabei grinse ich und Ray schaut mich völlig verwirrt an.  

Gleichzeitig kann ich auch bei ihm ein böses Grinsen erkennen.  

»Wie bitte?«, entgegnet er entgeistert.  

»Sie haben rund um die Lagerhalle doch garantiert jeden Winkel überprüft, korrekt?«, starte ich und füge ohne Pause hinzu: »Sind Ihnen dort Schleifspuren oder anderweitig auffällige Spuren im Boden aufgefallen?« Totenstille.

 

Dann höre ich etwas Undefinierbares und schon ist er wieder am Telefon: »Nein, tatsächlich konnte mein Team nichts dergleichen finden. Soll das etwa heißen, das Opfer ist selbst dorthin gegangen? Wie ist der Name des Opfers? Können Sie schon irgendwelche Details zu der Leiche nennen? Angeblich soll diese drapiert und ausgestellt worden sein. Man munkelt sogar über eine Notiz, die bei dem Opfer gefunden wurde.« Ray sieht mich gebannt an, doch ich schüttele den Kopf. Dennoch werde ich noch einmal dorthin fahren und mich selbst vergewissern, dass es keine Spuren gibt. »Herr Dahle, ich darf Ihnen nichts sagen. Sie haben mir sehr geholfen. Ich werde mich bestimmt irgendwann erkenntlich zeigen, aber Sie wissen ja, ich muss jetzt Donuts essen gehen oder so. Auf Wiedersehen.«
Klack.
Aufgelegt.
Das habe ich ja eben von der DHL gelernt.

»Donuts essen gehen?«, Ray zieht eine Augenbraue hoch und kann sein Lachen kaum verbergen. Dabei übertreibt er maßlos, indem er sich den Bauch hält und gespielt eine Träne wegwischt. »Na dann komm, ich lad’ dich auf einen Donut ein.« Lachend stehe ich auf, zögere jedoch. »Woher weiß er von der Notiz? Sickern bei uns Informationen durch?« Ray zuckt mit den Schultern, »Keine Ahnung. Aber bevor du fragst, dazu gibt es keine Rückmeldungen. Angeblich wurde der Text mit dem Blut des Opfers aufgedruckt.«

»Aufgedruckt?«, reagiere ich irritiert und gehe um meinen Tisch. Meine Jacke werfe ich mir um und wir verlassen mein Büro. »Ja, das hat mich auch überrascht. Die Nachricht wurde auf den Zettel gestempelt.« 

»Gestempelt?«

»Wiederholst du jetzt jedes Wort, das ich sage?«

»Nein, nur jene, die mich verwundern«, sage ich keck und grinse. Wir steigen die Treppen runter und verlassen das Revier. »Aha. Ja, ganz oldschool gestempelt.« 

»Aber das muss ja dann ein einfacher Stempel sein, welchen man selbst zusammenstellt und in Farbe tunkt. Nicht diese modernen, die Firmen oft nutzen«, denke ich laut.  

»Jahh«, brummt er und öffnet mir die Türe zum Gasthaus. Wir bestellen uns direkt etwas zum Trinken und kurz darauf jeweils einen Burger mit Pommes. »Das muss doch unheimlich viel Fummelarbeit sein. Außerdem waren das doch drei Zeilen und viele Wörter!« 

»Ich habe das überprüft, es gibt solche Kinderstempelsets. Vermutlich musste unser Täter mindestens 6 Stempel dabei haben, die schon fertig gesetzt waren und die Notiz vor Ort erstellen. Als ich mir die Notiz nochmal ansah, musste ich staunen.«

»Krass. Warum?«

»Weil die Reihen perfekt waren und der Satz absolut in einer Reihe stand, dabei waren es mindestens 2 Stempel pro Zeile. So eine ruhige Hand hätte ich auch gerne.«

 

Ich nicke, beinahe anerkennend. Kurz bevor das Essen gebracht wird, sage ich noch: »Und wenn sie sich früher kannten und das vorab erstellt wurde? Vielleicht war es ein verzwickt geplanter Mord?« Ray scheint darüber nachzudenken, aber wir belassen es dabei und genießen unser Mittagsessen.