Sabrinas Wohnung


Eigentlich muss es ja fast schon so sein, dass sie sich kannten. Immerhin gibt es hier, bei der Lagerhalle, absolut keine Hinweise oder Spuren, die auf Gewalt oder Transport schließen lassen. 

»Vielleicht hat der Täter Sabrina getragen?«

»Und die Spuren sind durch den Regen und den Kies ohnehin unbrauchbar«, füge ich bestätigend hinzu. Ray nickt. »Lass uns zu ihrer Wohnung fahren.«

Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir genau zur rechten Zeit da sind. Wir stellen den Wagen halb auf dem Fußgängerweg, halb auf der Straße ab. Sabrinas Wohnung ist im ersten Stock, mitten im Stadtzentrum. Sie hatte, soweit ich das richtig im Kopf habe, einen Arbeitsweg von zehn Minuten zu Fuß. 

 

»Hallo«, begrüßt mich Herr Beck, seine Augen sind rot. 

»Meine Frau ist mit ihrer Schwester und einer Freundin zu Hause«, beantwortet er eine nicht gestellte Frage. Wir folgen ihm nach oben. Dort sperrt er die Türe der Altbauwohnung auf und lässt uns den Vortritt. Die Wohnung ist überraschend hell eingerichtet, während der Flur, abgesehen von wenigen Schuhen und ein paar aufgehängten Jacken, leer ist. Ich höre, dass Wasser läuft und sehe zu Herrn Beck. Dieser schüttelt den Kopf und sieht ratlos aus. 

 

»Da duscht jemand?«, sage ich zu Ray, dabei klingt es wie eine Frage. Meine Hand lege ich auf meiner Waffe ab, bereit, sie jederzeit zu zücken. Das Wasser geht aus, »Hallo? Ist hier wer?«, höre ich eine Stimme, sie klingt etwas belegt, aber definitiv männlich. Ray stellt sich neben die Badtür und ich verstecke mich im Türrahmen zur kleinen Küche. Als die Türe aufgeht, richtet Ray seine Waffe auf die Person. Der Mann zuckt, als er bemerkt, dass jemand links von ihm steht und zuckt erneut, als er die Waffe sieht. 

 

»Bitte nicht«, ruft er, hebt seine Arme und schaut von der Waffe zu seinem Handtuch runter. Es hält. Zum Glück. Ray senkt seine Pistole und steckt sie wieder in den Schaft. Es ist Moritz Knud. 

»Moritz? Was machst du hier?«, kommt Sabrinas Vater auf ihn zu und ich gehe aus meinem Versteck raus. Er druckst herum, »ich wohne hier?«, fragt er, dabei schwingt eine Fahne mit, die mich angeekelt wegsehen lässt. 

»Ihr habt euch doch vor zwei Monaten getrennt. Dass ihr noch zusammenwohnt, haben Sie nicht angegeben«, entgegne ich direkt. 

»Na ja«, zögert er. 

»Ziehen Sie sich bitte etwas an und erzählen Sie uns dann die ganze Geschichte«, fordert Ray ihn auf und macht Platz, damit Moritz an ihm vorbei in das Schlafzimmer gehen kann. Nonverbal kommuniziert Ray mit mir, dass er hier bleibt und aufpasst, dass er nicht die Wohnung verlässt, während ich ins Wohnzimmer gehe und dort auf ihn warte. Ich rufe Herrn Beck zu mir und ich nutze die Minuten dann doch lieber dafür, mich genauer umzusehen. Nach dem Eingang, folgt rechts ein kleines Zimmer, dass ich als Gästezimmer verbuche, direkt daneben muss das Schlafzimmer sein, in welchem Moritz verschwunden ist. Links gegenüber des Wohnzimmers ist die Küche, geradeaus, direkt parallel zur Eingangstüre, das Badezimmer. Die Wände sind in einem Weiß oder Elfenbein gehalten, die Möbel sind eher hellbraun oder sogar weiß. Als ich in die Küche blicke, sehe ich einen kleinen Kühlschrank, eine Kochecke, zwei Wandschränke und Schränke auf dem Boden inklusive eines Geschirrspülers.

 

Plötzlich kracht es und ich reiße sofort die Türe des Schlafzimmers auf. Dort sehe ich, wie Moritz zwischen dem Fenster und einem umgefallenen Tischkästchen hängt. Ray steht neben ihn und greift gerade nach ihm. »Scheiße«, flucht er leise. Er wiederholt es, als ich näher komme und das Fenster schließe. »Was wollten Sie tun? Aus dem Fenster springen?«

Schmerzverzerrt räkelt er sich hoch, drückt sich vom Boden ab, steigt über das Kästchen und verflucht es dabei. 

»Brauchen Sie einen Arzt?«, reagiert Ray fürsorglich und ich verdrehe meine Augen. Karma regelt oft Dinge. Manchmal später, manchmal genau zur richtigen Zeit. 

»Äeaah, nein, es geht schon«, gibt Moritz schwach von sich und will an Ray vorbeigehen. Dieser hält ihn jedoch auf und legt ihm Handschellen an. 

»Scheiße! Was soll das?!«, schimpft er und wedelt mit den Armen, sodass die Schellen klirren. 

»Erzählen Sie uns lieber, was das hier soll«, fahre ich ruhig fort und wir gehen in das Wohnzimmer.

»Ja, wir haben uns getrennt und ich wohne auch nicht mehr hier. Wir, sie, eaah!«, fängt er an und läuft auf und ab. »Beruhigen Sie sich, setzen Sie sich und erklären Sie es einfach«, sagt Ray und deutet auf das Sofa. 

 

Das Wohnzimmer fungiert auch als Esszimmer, direkt im Eck nach der Türe, ist ein Tisch für vier Personen, links daneben eine L-Couch mit Couchtisch und gegenüber der Fernseher in einem Wandschrank. Hinter der Couch ist eine Fensterreihe, die sich auch entlang der Wand auf die linke Seite erstreckt. Im Eck gegenüber des Eingangs ist eine große Zimmerpflanze, die gesund aussieht. Moritz setzt sich widerwillig hin, sieht dabei aber unruhig und nicht begeistert aus, sodass er wieder aufspringt. Dadurch scheint ihm schlecht zu werden, denn er wird ganz blass im Gesicht und es sieht aus, als würde er sich gleich übergeben. Er schluckt es runter. 

 

»Sie ist doch tot, warum kann ich dann nicht hier wohnen?«, antwortet er dann überraschend energisch. Herr Beck hat bisher kein Wort dazu gesagt, aber diese direkte Art lässt ihn kreidebleich werden. »Sofern Sie nicht im Mietvertrag eingetragen sind, geht das nicht so einfach. Es muss mit dem Vermieter geklärt werden, wie es weitergeht«, entgegne ich trocken. Ich verurteile ihn nicht dafür, dass er so grob über den Tod seiner Ex-Freundin redet. Viele Angehörige von Mordopfern sind überfordert und es werden Worte gesagt, die von Emotionen angetrieben werden, die der Mensch unter anderen Umständen nie sagen würde. Andere verschweigen alles und kehren in sich zurück. Herr Beck würde ich so einschätzen. Moritz scheint sich etwas beruhigt zu haben, Sabrinas Vater hat sich inzwischen etwas zum Trinken geholt und auf den Stuhl gesetzt. Dabei stürzt er sein Gesicht in seine Hände. 

 

»Warum haben Sie Klamotten hier, wenn Sie gerade erst wieder hier sind? Und wer hat Sie hereingelassen?«, werde ich nun skeptisch. »Warum wollten Sie fliehen?«, hänge ich an und komme einen Schritt näher. Ray behält dabei den Ausgang im Blick, sodass ein erneuter Fluchtversuch scheitern würde. Herr Knud wird wieder weiß im Gesicht, »mir ist schlecht«, untermauert er sein Äußeres. Ich schaue zu Ray und er bestätigt meinen Blick, dass hier etwas faul ist. 

»Würden Sie uns bitte zur Wache begleiten?«, spreche ich das aus, was er offenbar am wenigsten hören will. Er springt auf, schwankt dabei, fällt wieder zurück auf die Couch und steht dann sofort wieder auf. »Neeiihn«, lallt er. 

»Dann dürfen Sie zuerst in der Ausnüchterungszelle verweilen, ehe wir Sie morgen befragen«, konfrontiere ich weiter. Das scheint ihm noch weniger zu gefallen und er versucht an uns vorbeizulaufen, dabei stolpert er fast über seine eigenen Beine und es ist für Ray ein Leichtes ihn aufzuhalten und abzuführen.

Entschuldigend sehe ich zu Herrn Beck und meine: »Jetzt hat es sich doch leider ganz anders entwickelt, wie geplant. Dürfen wir die Wohnung morgen erneut ansehen?«

»Aber natürlich«, sagt er, hievt sich hoch und verlässt mit mir das Wohnzimmer. Ray dürfte inzwischen schon im Treppenhaus sein. Der Vater hält kurz inne, »könnte Moritz …?«, deutet er dann schwach an. 

»Ich weiß es nicht, ich werde alles tun, um es herauszufinden!«

 

Schweigsam verlassen wir die Wohnung. Ich lasse ihn abschließen und gehe die Treppen runter. 

»Entschuldigung, was ist hier los?«, erwartet mich bereits eine ältere Dame im Erdgeschoss direkt an der Türe zu ihrer Wohnung. »Nichts Relevantes für Sie«, entgegne ich bedacht und sie will sich schon zurückziehen, scheint aber noch etwas loswerden zu wollen: »Ist irgendwas mit Sabrina oder Moritz? Ist irgendwas passiert?« 

»Sabrina wurde heute tot aufgefunden und wir gehen jeder Spur nach.«

»Ach herrje, oh nein. Das ist furchtbar«, gibt sie von sich und kommt wieder einen Schritt raus. Herr Beck geht an mir vorbei und ich bitte ihn, meinen Kollegen Bescheid zu geben, dass ich in einer Minute nachkomme. 

»Die Zwei waren immer so glücklich zusammen«, schwelgt sie offenbar in Erinnerungen. Und ich frage mich, wie viel meine Nachbarn von meinem Privatleben wissen. 

»Ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Immerhin sind sie schon seit Monaten getrennt.«

»Was?!«, spuckt sie mir samt ein paar Tropfen ins Gesicht. 

»Moritz war jeden Tag hier und immer freundlich. Dass sie sich getrennt hätten, wäre mir garantiert aufgefallen!«, fügt sie an und setzt ein verwirrtes Gesicht auf. Dann wirkt sie nachdenklich. »Einmal vor ein paar Monaten haben sie heftig gestritten, ja-ja. Das weiß ich noch. Sie hat geschrien, er solle rausgehen. Abhauen«, sie zögert, »sich verpissen«, ergänzt sie und wirkt verlegen. »Und Moritz war immer da? Trotz des Rauswurfs?«, möchte ich es bestätigt haben und wende mich ihr ganz zu. Sie wischt sich über das Gesicht, nickt dann. »Soweit ich weiß schon. Aber ich seh’ sie ja auch nicht jeden Tag. Er kam oft, wenn Sabrina in der Arbeit war. Dann war sie ja lange krank, glaub’ ich.« Interessant. Sehr interessant. 

»Er hat einen Schlüssel?«, stelle ich die letzte Frage, bevor ich für morgen einen Termin ausmache, um näher darauf einzugehen. »Natürlich, er wohnt ja hier.« Ich bedanke mich und verabschiede mich mit den Worten: »Bis morgen.«

 

Ray sieht mich fragend an, als ich in das Auto steige. Ich setze mich nach hinten zu Moritz und rolle mit den Augen. »Erzähl’ ich dir später«, sage ich flüchtig und er fährt los.

Nachdem wir Moritz in der Zelle abgeladen haben, noch einige Schimpftiraden von ihm gehört haben und er sich dann wie ein Lappen auf das Bett geworfen hat, verlassen wir dieses Abteil. Ich kläre Ray über die Unterhaltung mit der Nachbarin auf und er sagt dasselbe, was ich denke: »Der Typ ist wirklich seltsam. Aber meinst du, er könnte Sabrina so umgebracht haben?« Müde schüttele ich meinen Kopf und gähne. »Ich glaube, er ist froh, wenn er sein eigenes Leben gut hinkriegt. Das Profil unseres Täters deckt sich nicht mit seinem Verhalten.« Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich Feierabend machen kann. Wie aufs Stichwort klingelt mein Handy und Ray hebt die Hand, »bis morgen«, dann geht er durch die Türe und ich gehe ran. 

 

»Hey, was gibts?«

Meine Schwester antwortet: »Ich wollte dich nochmal daran erinnern, dass Steffen sein Spiel am Sonntag hat und du versprochen hast, dabei zu sein.« 

»Ah ja, habe ich notiert«, lüge ich, »natürlich bin ich dann da. Wie viel Uhr gehts nochmal los?«

Ich höre ein lachendes Geräusch. »Juggerturniere fangen in der Früh an und ziehen sich bis zum späten Nachmittag. Was du wüsstest, wenn du einmal dabei gewesen wärst«, wirft sie mir vorwurfsvoll entgegen. Erneut gähnend verlasse ich das Revier und mache mich auf den Weg zu meinem Auto. »Immerhin weiß ich, was Jugger ist und habe ihn schon spielen sehen«, entgegne ich keck, wissend, dass die meisten keine Ahnung von dem Sport haben und ich es kaum erwähnen kann, ohne erklären zu müssen, was das ist. Susann lacht. »Was machst du gerade? Komm doch auf einen Tee vorbei.«

Ich schaue auf meine Uhr, unnötigerweise, »tut mir leid, ich habe noch eine Verabredung heute. Wobei ich eigentlich lieber schlafen würde.« 

»Anstrengender Tag?«

»Mhm«, brumme ich. Dann verabschieden wir uns und ehe ich es vergesse, trage ich mir das Turnier in meinen Kalender ein. Heute ist Dienstag. Erinnerungen dazu 3 Tage, 1 Tag und 2 Stunden vorher. Sicher ist sicher.