Tag 2 - Nachmittag


»Ah! Du!«, ein kräftiger Mann kommt auf uns zu, relativ groß, T-Shirt und alte Jeans.

»Warum dauert das so lang’?«, er bleibt vor mir stehen, »verdammt! Gib endlich mei Baustelle frei«, bellt er.

»Wer sind Sie?«, frage ich ruhig.

»Wir müssen fertig werden diese Woche, ist das so schwer zu verstehen?«, wendet er sich ab und läuft hin und her. »Nein, aber die Lagerhalle ist ein Tatort und wird erst freigegeben, wenn wir das entscheiden. Das kann diese Woche sein oder nächsten Monat.«

»Nächsten Monat! Nich dein Ernst?!«, blafft er mich an und kommt mir zu nahe. Ray schiebt ihn gekonnt weg. »Jetzt beruhigen wir uns alle wieder.«

»Alex Bangov«, spuckt er uns förmlich seinen Namen ins Gesicht, nachdem Ray nochmal gefragt hat. 

»Setzen wir uns und reden darüber, ich habe eh noch Fragen«, gebe ich von mir und zuerst wirkt es so, als würde Herr Bangov einwilligen, aber dann wird er noch aufbrausender. 

»Schau ich so aus, als hätte ich Zeit zu reden und Kaffee zu trinken?«, dabei blickt er abfällig zu einem Kollegen, welcher am PC sitzt und Kaffee trinkt.

»Nein. Aber Kaffee klingt gut, was meinst du, Ray?«

Ich hasse solche Gespräche und neige dazu, die Menschen noch mehr zu provozieren.

Sein Mund klappt auf, »ach, leckts mich!«, dann will er schon davon stampfen, Ray hält ihn an einem Arm fest und ich erwidere: »Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass eine Beschädigung des Siegels oder Durchtrennen des Absperrbands hohe Bußgelder bedeuten werden. Natürlich kann auch das Verunreinigen des Tatorts Strafen nach sich ziehen.«

Er verharrt, »sagts das meinem Kunden!«, gibt er immer noch wütend von sich.

»Gerne, geben Sie mir die Telefonnummer«, erwidere ich gelassen, Ray hat ihn bereits losgelassen und er wollte schon gehen, dreht sich jedoch um und sieht mich entgeistert an. Auch Ray zieht eine Augenbraue nach oben. Unerwarteterweise wählt er die Nummer und gibt mir sein Handy. Wohlgemerkt ein teures und modernes Modell. »Hallo, Elisabeth Growe von der Mordkommission, Dienstnummer 4278 am Apparat. Herr Bangov hat mir sein Problem mit dem Zeitdruck geschildert. Leider ist der Tatort, ihre Lagerhalle, bis auf Weiteres gesperrt und kann erst nach Freigabe von uns fertiggestellt werden. Daher -«, fange ich an, werde aber unterbrochen. Ich nicke und Alex sieht mich neugierig an, »… kann ich nicht genau sagen«, antworte ich, »alles klar. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«

Ich lege auf und gebe das Handy zurück. »Er bittet, dass Sie sich melden, sobald sie freigegeben wird, bis dahin wird die Frist pausiert«, erkläre ich und er schiebt das Smartphone ganz langsam zurück in seine Hosentasche. »Danke«, nuschelt er, wendet sich ab und will schon gehen, doch ich rufe: »Warten Sie kurz.«

Er bleibt sichtlich überfordert stehen. »Herr Schmidt, Ihr Mitarbeiter, sagt Ihnen der Name etwas?«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu. Alex überlegt, nickt dann.

»Er hat definitiv eine Beförderung zum Vorarbeiter verdient. Angestellte, die so motiviert sind, sollten Sie als Unternehmer festhalten.«

Seine Augen werden groß und aus dem Augenwinkel sehe ich sogar, dass Ray der Mund aufgeklappt ist. »Aber natürlich«, beeilt sich Herr Bangov zu sagen und verabschiedet sich dann. 

»Was war denn das?«, meint Ray und schmunzelt, als wir zum Chef gehen und die Sache erklären. »Eine gute Tat. Lass mich«, erwidere ich grinsend.

 

»Ich habe Hunger«, flüstert Ray, als wir aus dem Büro rausgehen. Schwach nicke ich, biege aber zuerst in mein Büro ein. Auf dem Tisch liegt ein Dokument, welches ich sofort nehme und lese. »Gerichtsmedizinisches Gutachten«.

Melo hat sogar etwas Interessantes gelb markiert: Alkoholkonzentration: 1,2‰.

Darüber steht die Todesursache, wie schon bekannt: Genickbruch mit anschließender Exsanguination durch das Öffnen der Schädeldecke.

Ich schaue zu Ray, der daraufhin näher kommt und mir über die Schulter blickt. 

»Das macht es nicht einfacher.«

Ich schüttele meinen Kopf, »Nein, aber immerhin haben wir einen neuen Anhaltspunkt. Sie könnte zuvor feiern gewesen sein und-«, ich stoppe, weil er entschieden den Kopf schüttelt.

»Sabrina hatte einen Hoodie an, nichts, was typisch zum Feiern wäre. Und wie kommt sie dann zur Lagerhalle?«

Ich zucke mit den Schultern, »vielleicht war sie in einer Bar und dort hat sie jemand aufgegabelt oder auf der Straße abgefangen und dorthin gebracht.«

»Um sie – jemanden Fremden – umzubringen und auszustellen?«

»Vielleicht haben sie sich gekannt?«

»Vielleicht«, scheint Ray ernsthaft darüber nachzudenken. »Ich gebe es weiter, damit die Kollegen in umliegenden Bars nachfragen, ob Sabrina dort war.«

Schwach nicke ich, »sie sollen auch nach der Freundin suchen, die Erika erwähnt hat. Ach ja und …«, ich zögere kurz, »bitte die Landwirtsfirma Struda, ebenfalls checken. Ihr gehört die zukünftige Lagerhalle.«

Etwas blitzt in seinen Augen auf und er verlässt mein Büro. »Angetrunken«, flüstere ich. Ich beschließe doch noch einmal Platz zu nehmen und trage die Daten des Tages in meinen PC ein, damit alle, der zuständigen Beamten in meiner Gruppe, den aktuellen Stand haben.

 

Nach dem kalten Mittagessen ist Moritz endlich so weit und sein Anwalt mit ihm im Vernehmungszimmer.

»Was wird meinem Mandanten konkret vorgeworfen?«, fängt der Anwalt direkt nach der Vorstellung an. Er wirkt, als würde er das schon immer machen und als wäre es nur ein weiterer simpler Fall. Ich setze mich gegenüber und lege meine Arme auf den Tisch.

»Dem Mandanten wird der Tatvorwurf des Stalkings gemäß § 238 StGB gemacht. Zusätzlich besteht der Verdacht auf Mord, jedoch liegen derzeit keine konkreten Beweise für den Mord vor. Die Ermittlungen diesbezüglich sind noch im Gange.«

Moritz’ Augen werden groß, »MORD?«

»Ihr denkt doch nicht wirklich, ich könnte Sabrina auch nur ein Haar gekrümmt haben!«, schreit er. Der Anwalt hebt die Hand, eine Geste, die für Beruhigung sorgen soll. Moritz lässt sich wieder in seinen Stuhl fallen und verschränkt die Arme.

»Wie kommen Sie darauf, dass mein Mandant, seine Ex-Freundin Sabrina Beck umgebracht haben könnte?«

Ich finde es interessant, wie weder Herr Knud, noch sein Anwalt auf die Stalkingvorwürfe reagieren. »Wir haben mehrere Aussagen, dass Herr Knud Sabrina nachgestellt, eine Affäre vorgeworfen hat und sie systematisch isoliert hat. Infolgedessen ist der vage Verdacht naheliegend, dass er Frau Beck im Affekt umgebracht haben könnte.«

»Das sind jedoch reine Spekulationen. Darauf lassen wir uns nicht ein!«, greift er direkt ein, »ich bitte um sofortige Akteneinsicht in den Fall. Solange Sie weder Beweise noch einen Haftbefehl vorlegen können, gibt es für uns hier nichts zu tun.«

Ray will noch etwas sagen, doch der Anwalt hebt die Hand: »Wir gehen jetzt.«

Moritz grinst leicht. Als ich jedoch meine Augen zusammenkneife, verschwindet sein Grinsen.

»Das war ja mal gar nichts«, gibt Ray von sich und ich nicke. »Schade, dass wir ihn nicht wegen Stalking anzeigen können.«

»Wir nicht«, sagt Ray mit einem Unterton, was mir ein Schmunzeln entlockt.

Bei der Wohnung angekommen, treffen wir wider Erwarten die Schwester der Mutter von Sabrina. Sie öffnet uns die Türe und setzt sich auf die Couch.

»Haben Sie schon irgendwas? Irgendwen?«, traut sie sich dann zu fragen. Wir entschuldigen uns und teilen mit, dass wir noch nichts Genaues mitteilen können. Ray sieht mich an. Ich schüttele den Kopf, wissend, was er tun würde. Er sieht traurig zu Boden.

 

In der Wohnung stülpen wir die Handschuhe über und machen uns ans Werk. Ein Kollege von der Spurensicherung ist ebenfalls anwesend, dieser macht auch Fotos. Die Tante von Sabrina versucht auch bestmöglich zu helfen, ohne etwas anzufassen.

Tatsächlich haben wir uns um keinen gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss gekümmert, da wir die Erlaubnis der Eltern haben. Im Zweifel hätten wir natürlich einen Beschluss bekommen.

Ray und die Spurensicherung starten im Schlafzimmer, ich sehe mich derweil in der Küche um. 

 

Neben ein paar Kassenzetteln, die später fotografiert werden, einem eher leeren Kühlschrank und den Standardlebensmitteln ist hier nichts Auffälliges zu finden.

Ich gehe zum Wohnzimmer und öffne sämtliche Schränke nacheinander. In einigen sind zahlreiche DVDs, viele über Anwälte oder klassische Filme der Kategorie ‘Schnulze’.

In einem anderen entdecke ich einen Laptop und da Moritz bestimmt seinen nicht hier gelassen hat, schließe ich daraus, dass es Sabrinas sein muss. Mir fällt wieder ein, dass sie kein Handy bei sich trug und frage die Tante, Claudia, ob sie eins besessen hat. Man weiß ja nie.

»Ähm, wir hatten zwar nicht sehr viel miteinander zu tun, aber sie hatte immer ein Smartphone. Das ist heutzutage doch normal«, erhalte ich die Antwort und nicke. 

»Wo könnte sie ihres hingelegt haben?«

»Eigentlich trägt sie es immer bei sich, war es nicht …«, sie hadert. Ich schüttele schnell den Kopf, »Nein, es war nicht dabei.«

»Ray!«, rufe ich, gehe aber doch rüber und entdecke beide über Dokumente gebeugt stehen.

Er sieht auf, »ah, ich wollte euch nur bitten, darauf zu achten, nach ihrem Handy zu suchen. Habt ihr da etwas Interessantes?«

Beide nicken, dann meint der Kriminaltechniker: »Das sind Reisebelege, offenbar waren sie vor einigen Jahren öfter verreist. Hier sind Bestätigungen von 2018 - Venedig, 2019 - Zypern, 2022 - Rhodos.«

»Letztes Jahr waren sie in Griechenland?« hinterfrage ich. Das muss ja dann wenige Monate vor der Trennung gewesen sein. 

»Offensichtlich. Zumindest wurde für zwei Personen gebucht«, antwortet Ray.

»Hier ist sogar etwas Frischeres«, ein Zettel wird angehoben, »ein Zugbeleg nach Hamburg.«

»Was - was ist in Hamburg?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls war das eine Woche vor dem Todestag.«

Ich gehe wieder zurück und frage die Tante. Sie verzieht ihr Gesicht zu einer nachdenklichen Schnute, »ich weiß es nicht, vielleicht Freunde?«

»Soweit ich weiß, war Sabrina relativ isoliert und pflegte wenig Umgang mit Freunden. Wie sieht es mit Verwandten aus?«

Sie denkt offensichtlich nach, zückt dann ihr Handy und ruft jemanden an.

»Hi, ich bin es. Ja. Genau, habe ich. Sie haben gerade etwas gefunden, ist irgendwas in Hamburg? Angeblich war Sabrina dort.«

Ich sehe mich in der Zwischenzeit noch etwas um. Aber weiteres finde ich nicht, weshalb ich zu den anderen gehe, nachdem mir Claudia mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern auch nicht wüssten, was in Hamburg sei.

»Den Laptop hätte ich«, gebe ich Bescheid.

»Bitte den Router auch, dort kann ausgelesen werden, wer sich in das Netz eingewählt hat. Sie können den Fernseher überprüfen, ob dieser eine Online-Anbindung hat«, erhalte ich die nächsten Anweisungen.

»Hat Sabrina ein Auto? Oder Moritz?«, frage ich Claudia, weil ich an ein Navi denke. 

»Weder noch. Zumindest nicht, nach meinem aktuellen Stand. Sie haben immer etwas gemietet, wenn sie Ausflüge gemacht haben oder waren mit den Öffis unterwegs.«

»Danke«, sage ich schwach und schalte den Fernseher ein. Tatsächlich! Smart-TV mit YouTube, Netflix und Disney+. Der Browser ist veraltet und wenn ich ihn anklicke, wird um Updates gebeten. Also ist hier vermutlich nichts drin. YouTube spuckt mir neben ein paar Songtiteln als Suchvorschlag noch folgende Werte aus:

Good-Vibes

Hörbuch

lustige Katzen

Netflix-Serien

Disney+

 

Auf den Streamingplattformen gibt es drei Profile, ‘Mo’, ‘Sa’, ‘We’.

Die Profilbilder stellen bei Netflix Figuren aus Black Mirror dar, das gesprungene Glas für Sa, die blaue Figur für Mo und der Ladekreis für das gemeinsame Konto.

Was das wohl psychologisch aussagt?

Bei Disney+ hat Mo so einen fauchenden Waschbär in Lederkleidung, Sa die Grinsekatze und die altmodische Micky Mouse-Version als We.

»Hast du was?«, kommt Ray rein und sieht mich an.

»Ohne psychologische Analyse von Profilbildern eher nicht.«

Er sieht mich an, als würde er durch mich schauen, ich warte noch, grinse dann und er schmunzelt ebenfalls. Offenbar ist die Botschaft angekommen.

Der Spurenexperte schaut sich noch im Wohnzimmer um, dann im Bad und nachdem wir nichts mehr gefunden haben, das aktuell einen Hinweis gibt, bedanken wir uns und verlassen die Wohnung. »Gib den Laptop Sven, er übergibt es dann der IT«, meint Ray, als ich ihn in die Hand nehme. Ich nicke schwach und trage ihn runter, um ihn zu überreichen. Sven notiert es gleich und verabschiedet sich.

 

Anschließend entdecke ich eine Bar, nicht weit entfernt und mache Ray darauf aufmerksam.

»Wir sind im Dienst«, spottet er.

»Pfff, aber nur noch 30 Minuten«, erwidere ich schlagfertig und er lacht. 

Zumindest wäre das die gewöhnliche Zeit, zu welcher wir aufhören. Bei Mordermittlungen dürfen wir jedoch immer Überstunden schieben, sofern erforderlich.

Drinnen fragen wir direkt jemanden an der Bar, ob Sabrina hier bekannt ist und zeigen ein Foto, welches wir von den Eltern erhalten haben. »Ich bin noch nicht so lange hier«, entschuldigt sich eine junge Frau. Sie ruft jemanden und ein Herr im mittleren Alter kommt vor an die Bar. Wir wiederholen uns und er sagt dann: »Ich bin hier schon lange, aber sie habe ich noch nicht gesehen. Kann aber auch sein, dass ich es übersehen habe. Sind ja doch viele Gesichter jeden Tag.« Müde bedanken wir uns und verlassen die Bar.

 

»Gehen wir in noch eine Bar?«, frage ich und Ray zieht seine Schultern nach oben, nur um sie daraufhin wieder fallen zu lassen.

»Meinst du, das bringt etwas?«

Ich tue es ihm gleich, »sie war kurz vor ihrem Tod gut angetrunken. Meinst du, sie hat daheim getrunken, beschlossen einen Spaziergang zu machen und wurde dann entführt?«

»Ich weiß nicht. Mittels Bar ist es plausibler. Aber trotzdem – ein Wildfremder stellt doch niemanden so aus. Das sieht geplant aus.«

Wir beschließen, in eine weitere Bar zu gehen. Doch leider erteilt man uns dort die gleiche Aussage. »Lass uns Schluss für heute machen.«

»Das klingt gut«, antwortet Ray und unterdrückt ein Gähnen.

»Ob die Firma was weiß? Struda?«

»Unsere Kollegen haben noch nichts gesagt. Sie hätten sich bestimmt gemeldet, wenn es etwas Auffälliges gäbe.«

Laut seufze ich.

»Entspann dich, du machst das gut und heute ist erst der zweite Tag. Morgen ergibt sich vielleicht etwas Neues«, versucht Ray mich aufzumuntern und ich bedanke mich dafür.

»Meinst du, die IT hat sich schon den Laptop angeschaut?«, frage ich und er verdreht die Augen.

»Was habe ich gerade gesagt?«, tadelt er daraufhin und ich frage frech: »Willst du heute noch nach Hause?«

Ray lacht auf und wir gehen zum Auto, nachdem er ausgestiegen ist, fahre ich nach Hause.

 

Gedanklich mache ich mir eine Liste, was ich alles in der Besprechung morgen früh erwähnen muss, öffne meine Wohnung und verschwinde darin.