Flaute und Jugger


In meinem Job gibt es keine freien Tage. Zumindest nicht, wenn gerade ein Mordfall auf dem Tisch liegt. Aber ich bin kurz vorm Verzweifeln. Seit Freitag war ich damit beschäftigt, irgendwas zu finden. Denn es war schnell klar: Moritz war am Tag des Mordes nicht dort.

Sein Alibi ist mehr als wasserdicht. Gestern redete ich mit seinem Anwalt und mit seinem Arbeitgeber, es ist tatsächlich wahr, dass er in der Arbeit geschlafen hat. Das haben mehr als ein Dutzend Menschen gesehen. Vor 6 Uhr hat er sich nicht bewegt und der Mord fand ungefähr um 4:00 Uhr in der Früh statt. Die Tatsache, dass unser bislang einziger Verdächtiger es nicht gewesen ist, fühlte sich an wie ein kräftiger Schlag in den Magen. Nicht nur das, es bedeutete auch, dass alles von vorne begann.

Obduktion durchgehen, nochmal alles im Team besprechen, das Flipchart neu aufsetzen, vielleicht haben wir irgendwas übersehen. Dann die Liste der Kunden ihrer Arbeit durchgehen, noch mehr überprüfen, recherchieren, was Sabrina die letzten Wochen getan hat, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Es ist mühselig. Und noch nicht vorbei.

Zwischen all den Papieren und dem Herumtelefonieren, freue ich mich, als mein Handy mir sagt: Jugger-Turnier Steffen 

Unter anderen Umständen hätte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich jetzt weggehe, aber ich war gestern schon von 7 Uhr bis 22 Uhr hier und mache nichts anderes. Diese Pause nehme ich mir jetzt.

Ray winkt mir zu, er weiß Bescheid und hat auch vollstes Verständnis dafür, dann bin ich weg. Die nächsten 2-3 Stunden «out-of-paper«.

 

»Heeeey, Großer«, begrüße ich meinen Neffen, der angespannt und aufgeregt zugleich wirkt.

Er kommt auf mich zu und umarmt mich, »du hast es wirklich geschafft!«

»Versprochen ist versprochen. Wie sieht’s aus?«, hake ich nach und versuche mir einen Überblick zu verschaffen. Sein Trikot steht ihm sehr gut und ich finde die Farben toll: Dunkelblau-giftgrün. «Schlangenzahn«, steht darauf und ich erinnere mich, dass es ihr Teamname ist. Zwar war ich noch nie bei einem Turnier dabei, aber ich habe ihn schon in einem Freundschaftsspiel kämpfen gesehen. »Also wir hatten schon zwei Spiele, eines haben wir gewonnen, das andere war recht knapp«, erklärt er.

Ich schaue mich um, überall sind Teilnehmer, die einen stehen, andere sind gerade in einem Spiel. Diverse Trikots in den unterschiedlichsten Farben und Varianten. Eins ist schwarz, mit pinken Kratzern; Pink Panther. Ein anderes Gelb-Schwarz; Munich Monks. Viele sind rot,

rot-schwarz; Rigor Mortis, rot-weiß; Jugger Vienna.

Im Hintergrund ertönt ein Trommelschlag im 1,5-Sekunden-Takt. Das weiß ich noch, das ist die interne Zeit zum Messen der Strafzeiten. »Mein Team muss gerade schiedsrichten«, weckt mich Steffen aus meiner Beobachtung. »Schiedsrichten?«, hinterfrage ich.

Er nickt, »Ja, in Turnieren ist es üblich, dass zwei Teams gegeneinander antreten, während das Dritte als Schiedsrichter fungiert. Bei einem Freundschaftsspiel, wenn nur zwei Teams da sind, geht das ja schlecht.«

»Okay, cool. Worauf müsst ihr achten?«, werde ich neugierig. Irgendwie finde ich das Konzept toll. Spieler werden in eine andere Position gesetzt und müssen darauf achten, dass andere fair spielen. Das hat garantiert Einfluss auf das eigene Spiel und es herrscht dadurch ein ganz anderes Klima. Das spüre ich auch, viele unterhalten sich unabhängig der Teams. Lachen, liegen aufeinander, als würden sie sich schon ewig kennen.

Ich kann 4 Spielfelder erkennen und staune. »Ja, es sind 11 Teams gekommen, wir haben vier Felder aufgebaut und«, er zögert und sieht sich um. »Ich muss zurück, wir haben gleich das nächste Spiel. Komm mit!«

Eifrig nicke ich, freue mich auf pure Ablenkung, entschuldige mich aber kurz: »Ich sag’ schnell deiner Mam’ hallo, dann bin ich auch sofort da!«

Unkommentiert verschwindet er und ich strecke meine Hand, um seiner Mutter zu winken. Sie muss ja sehen, dass ich wirklich da bin, sonst glaubt sie mir das nicht.

»Du hier?«, schmettert sie mir sarkastisch entgegen. 

»Selbstverständlich«, entgegne ich selbstbewusst und grinse leicht. Sie reicht mir eine Flasche Wasser, welche ich dankend annehme. Das Wetter ist nahezu perfekt für ein Turnier im Freien.

Es ist nicht unerträglich heiß, gelegentlich verirren sich ein paar Wolken und ein leichter Wind zieht durch die Reihen. 

»Gehts dir gut?«, stellt sie die Frage, die wir uns eigentlich nicht stellen. Wir sind seit einigen Jahren bemüht, nur ehrlichen und aufrichtigen Kontakt zu führen, Floskeln, die man aus Höflichkeit sagt, sind verboten. 

»Nein.«

Die Art, wie ich das sage, gibt ihr zu verstehen, dass ich das nicht ausführen oder erklären möchte. Wir schweigen kurz und ich drehe mich, damit ich Steffen suchen kann. Als ich ihn im Blick habe, gehe ich zu ihm und seinem Team. Sie scheinen aktuell in einem Gespräch zu sein, wirken aber äußerst ausgelassen und aufgeregt.

»Hallo und viel Glück«, grüße ich die Runde.

Sie registrieren mich, reden aber weiter. Nach ein paar Minuten kommt Steffen zu mir und informiert mich, was jetzt passiert.

»Wir spielen jetzt gegen die Schurken von Bamberg«, er zeigt auf das Feld rechts von uns, »hier.« Ich nicke und nachdem er mir gesagt hat, wo ich stehen soll, nehme ich den Platz ein.

 

Als das Spiel dann losgeht, bin ich erst überrascht. Die Teilnehmer treten nach vorne zur Spielfeldmitte, begrüßen sich, wünschen ein gutes Spiel und einige umarmen sich. Dann gehen sie zurück, greifen zu ihren Pompfen und stellen sich hinter der Feldlinie auf. Jetzt, da ich darauf achte, fällt mir auf, dass das Feld achteckig ist. Die Ecken des Quadrats sind immer abgeschnitten. Im letzten Spiel, welchem ich beigewohnt hatte, war es nicht so.

Ein Spieler eines anderen Teams, tritt in die Feldmitte, hebt die Arme hoch und streckt sie auseinander. »Alle Teams bereitmachen.«

Der Läufer des gegnerischen Teams hebt die Hand, nachdem seine vier Kollegen ihm zugenickt haben. Bei Steffens Team dasselbe. Beide Teams sind geschlechtsgemischt. Das finde ich total cool. Egal ob Frauen oder Männer, in diesem Sport hat keiner besondere Vor- oder Nachteile. 

»3-2-1 Jugger!«, ruft der Spielmacher und tritt aus dem Feld. Die Teams stürmen aufeinander zu, zack, zack, einige wurden getroffen und knien mit einem Knie ab. Ein anderer Kampf scheint nicht so einfach zu sein. Eine Spielerin mit einer langen Pompfe, ich glaube, das war der 'Stab', steht im Zweikampf einer 'Kette' gegenüber. Kurz darauf kommt ein Teamkamerad zur Hilfe und gemeinsam landen sie einen Treffer. Ungeachtet, was weiter vorne passiert, denn der gegnerische Läufer hat bereits den Spielball (Jugg) ergattert und stürmt am Rande entlang zum Tor (Mal). »Jugg!«, ruft eine Frau, die gegenüber an der Torposition schiedst.

Die Punkteanzeige wird umgeblättert, alle Spieler kehren wieder zu ihren Startpositionen zurück. 1:0 für die Schurken. Steffens Team fängt an, zu diskutieren.

Eigentlich waren sie mit einem aktiven Spieler in Führung. Leider wurde die Rundumsicht vernachlässigt und die gewieften Läufer nutzen jede Lücke aus.

Nachdem sie die Startaufstellung etwas geändert haben, geht die Hand wieder nach oben und die nächste Runde wird angesagt.

Dieses Mal beobachte ich Steffen, der zu einer großen Pompfe gegriffen hat. Den Namen weiß ich nicht mehr, es sieht jedenfalls wie ein zwei Meter großes Wattestäbchen aus.

Er kreuzt beim Laufen die Position mit der Stabspielerin und fixiert den Kettenspieler. Nachdem er den Ball durch das Band gefangen und um seine Pompfe gewickelt hat, stürmt er vor und landet einen gestochenen Treffer. Seine Pompfe ist durch die Mithilfe des Kettenspielers in weniger als einer Sekunde befreit und er kann einen Seitenstecher zum nächsten Gegner machen, welcher durch die Überzahl überrascht wird und verliert. Der Läufer hat den Jugg und rennt geschützt von Steffen und der Frau zum gegnerischen Mal, steckt den Jugg in das Loch und der Ruf »Jugg!« ertönt. 1:1.

 

»Unglaublich. Seit wann ist er so schnell und wendig geworden?«, sage ich zu meiner Schwester, als sie sich zu mir stellt. »Er ist vernarrt in diesen Sport und will am liebsten jeden Tag spielen. Zweimal Training reicht ihm nicht, also spielt er mit ein paar anderen noch außerhalb dessen.«

»Sehr engagiert!«, erwidere ich. »Ja, was für andere Fußball ist, ist für ihn Jugger. Ich bin auch froh darum. Der Sport ist cool«, sie grinst. Ich grinse, »oh ja.« 

»Du hättest das damals auch gespielt, wenn es das schon hier gegeben hätte, nicht wahr?«

Ich muss fast gar nicht überlegen, »definitiv.«

 

Wir schauen noch stillschweigend dem Spiel zu, entdecken ein paar grobe Fouls, die aber auch von den anderen gesehen und entschuldigt wurden. Die Halbzeit ist schon vorbei und es steht 5:4 für Steffens Team. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Spieldauer geregelt ist. Der Trommelschlag, der das ganze Fußballfeld einhüllt, ist, soweit ich weiß, neben dem Abzählen der Strafe auch ein Zeitgeber für die Spieldauer.

 

In der nächsten Runde wird es richtig spannend, der gegnerische Läufer wird lediglich von dem eigenen Läufer am Tor blockiert. Rettung naht für niemanden. Unserer Läufer blockiert zuerst mit einer komischen Haltung das Mal und als der gegnerische Läufer versucht diesen wegzudrücken und den Punkt zu machen, hechtet dieser überraschend nach vorne, hievt den anderen samt dem Jugg hoch und befördert ihn ins Aus, welches ungefähr zwei Meter dahinter ist. Der Jugg ist somit frei, aber die Gegner rennen bereits auf den Läufer zu, er greift den Jugg, versucht auszuweichen, sieht die aussichtslose Lage und wirft im letzten Moment den Jugg in die Richtung des gegnerischen Tores, daraufhin wird er getroffen und kniet ab. Der gegnerische Läufer hat nicht mehr viel Strafzeit und sucht den Jugg mit seinem Blick. Steffen steht auch wieder und kickt den Jugg weiter zum gegnerischen Mal. Natürlich mit der Pompfe, alles andere wäre verboten. Noch etwas weiter und der Jugg rollt zum Teamkollegen, welcher gerade jemanden pinnt. Steffen wendet und rennt zurück zu den Gegnern, um seinen Läufer zu befreien. Gekonnt springt er über die Kette, rutscht etwas bei der Landung, fängt sich wieder und schlägt den Kettenspieler ab. Kurz darauf pariert er einen Stich, bekommt auch im selben Moment Unterstützung eines aufstehenden Spielers. Gemeinsam besiegen sie den Gegner, ehe sie sehen, wie der gegnerische Läufer an ihnen vorbeischießt, anbei ein Stabspieler, um den Jugg zu holen. Unser Läufer konnte sich ebenfalls befreien, wird aber im nächsten Moment von jemanden getroffen. Der zuvor gepinnte Spieler konnte sich befreien - wie auch immer - und der Pinnende kniet, was bedeutet, sie haben freie Bahn. Immerhin müssen sie in die andere Richtung, was ein kleiner Trost ist. So langsam stehen alle nicht gepinnten Spieler auf und das Spiel beginnt beinahe von vorne, wenn Steffen sowie sein Kollege nicht hinterrücks getroffen worden wären. Keine zehn Sekunden später steckt der Jugg im Mal und es steht 5:5.

 

Es ist unglaublich aufregend zuzusehen und ich überlege fast, ob es Popcorn dazu gibt, sehe aber niemanden einen ähnlichen Gedanken hegen. Ich beschließe mich im Gras hinzusetzen und den letzten Runden gebannt zuzuschauen, ehe mich meine Gedanken an den Fall wieder ablenken.

Überraschenderweise ging das schnell, nach 2 weiteren Punkten für Steffens Team, bleiben lediglich noch um die drei Sekunden Spielzeit übrig, welche nicht ausgespielt werden. Alle freuen sich. Zumindest auf einer Seite und ich stehe auf, um ihnen zu gratulieren.

»Das war unglaublich«, sage ich und gehe zu seinem Team, nachdem die Dankesumarmung abgeschlossen ist und das Team sich etwas beruhigt hat. »Ja, lief ganz gut. Aber die schweren Gegner kommen erst noch«, erwidert er skeptisch. Ich schaue auf meine Uhr.

»Du musst weg?«, assoziiert er und ich nicke. 

»Eigentlich mache ich nur ‘Pause’«, antworte ich betont. Er wendet seinen Blick abgelenkt und traurig ab. »Verstehe, aber danke, dass du da warst!«, entgegnet er, bevor er wieder zu seinem Team rennt und nochmal kurz den Sieg feiert.

 

Ich beschließe doch noch zu bleiben, jedenfalls für ein weiteres Spiel. So wie ich erfahren habe, spielen sie als nächstes gleich gegen die Munich Monks. Eins der stärksten Teams.

»Viel Spaß und gebt euer Bestes!«, rufe ich und sein Team hebt die Pompfen.

Nach dem Begrüßungsritual gehts auch gleich los. Sie stürmen aufeinander zu und es wirkt wie ein chaotisches Schlachtfeld. »Dong!«, der erste Trommelschlag. Die ersten Nahkämpfe beginnen. »Dong!«

Zwei aus Steffens Team knien bereits ab. »Dong!«

»Überzahl!«, schreit der Läufer und sieht zwei Gegner auf sich zurennen. »Dong!«

Steffen steht noch, er hat den Zweikampf gewonnen, aber das ist schon egal - »Dong!« und kurz darauf ertönt ein »Jugg!« von der Malschidsrichterin. 5 Steine - 7,5 Sekunden und ein Punkt verloren. Mir klappt der Mund auf. Sind die Münchner in ihren gelb-schwarzen Trikots wirklich so stark oder habe ich etwas verpasst?

Zehn Sekunden später heißt es wieder »3-2-1 Jugger!« und zehn Spieler stürmen aufeinander zu. Jetzt sehe ich es. Die Monks sind schneller. Sie sind als Erster beim Jugg, schlagen ihn nach hinten zum Läufer und stehen in einer perfekten Reihe nebeneinander, wie eine Mauer. Steffens Team hingegen kommt ungleich an. Er ist auch nicht der Schnellste. Der Vorderste wird sofort im 2 vs. 1 getroffen, dann bricht einer vom gelben Team seitlich durch und flankiert alle Spieler, während deren Läufer nahezu gemütlich seitlich vorbeijoggt.

 

»Könnt ihr nicht als Erster beim Jugg sein?«, gehe ich zum Team und frage direkt nach, als die Runde vorbei ist. »Wir sind zu langsam«, sagt ein Mädchen und schnauft.

»Ihr müsst dann wenigstens in einer Linie ankommen. Eure Formation zerfällt beim schnellsten Spieler«, erkläre ich und sehe den Betroffenen an.

»Ja, das ist schon immer ein Problem«, meint Steffen. Für einen Moment dachte ich, da sei ein Unterton in seiner Stimme, aber ich irrte mich. Sie sehen mich dankbar und abwartend an. »Probiert es, dann schau’ ich jetzt, was noch geht!«

Motiviert nicken sie und stellen sich wieder auf. Als davor eine kurze Pause zwischen den Spielen war, konnte ich ein paar Spielzüge bei anderen Teams erkennen. Vielleicht komme ich noch darauf, warum die Münchner so verdammt gut sind.

 

Nach knapp 30 Minuten ist das Spiel vorbei, 12:3 für die Monks. Immerhin nicht zu 0 und das Team freut sich, auch wenn ich immer noch nicht ganz verstehe, warum es so einen erheblichen Unterschied gibt. Steffen kommt zu mir gerannt, umarmt mich und bedankt sich. 

»Durch dich konnten wir immerhin ein paar Punkte machen, gegen ein starkes Team!«

Ich grinse, dann wendet er sich ab und ich rufe noch meine Verabschiedung hinterher. Ich sehe, wie sie zum Gegner gehen und anfangen, angeregt zu reden und sich auszutauschen. Schon wieder grinse ich. Es ist ein toller Sport. Ein tolles Klima.

Nachdem ich mich von meiner Schwester verabschiedet habe, sichtlich aufgeheitert, sitze ich in meinem Auto und beschließe das zu tun, was sich schon die ganze Zeit in meinem Gehirn windet: Ich fahre zum Tatort. Der Gedanke, dass die Teams herkommen, um zu spielen, hat sich auf meinen Fall übertragen. Aber warum sollte Sabrina über 8 Kilometer spazieren gehen - angetrunken?