Der Schlangen-Mord


Knapp eineinhalb Wochen der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt. Eineinhalb Wochen. Neun Tage der fehlenden Spur und der stetig steigenden Frustration. Wie kann es sein, dass wir nichts gefunden haben? Keinen einzigen Verdächtigen? Nichts?

 

Und dann, am Dienstagmittag, der verheerende Anruf. Noch eine Leiche!

Heute. Genau zwei Wochen später. Ich fahre, Ray sitzt neben mir. Wir denken vermutlich dasselbe: Welche Abscheulichkeit erwartet uns jetzt?

Dabei schweigen wir, versunken in unseren Gedanken, dem Frust und den Gefühlen der letzten Tage.

 

Wir fahren raus, abseits der Stadt, ca. 5 km von ihr entfernt. Dort angekommen, müssen wir meinen Wagen an der Straße parken und über einen Feldweg gehen. Rechts ist ein privates Fischergewässer. Links etwas, das als belichteter Wald durchgehen könnte. Wobei es eher knochig ist und die meisten Bäume sehr alt oder gefällt sind. Rechts folgt eine Abtrennung des ersten großen Teichs mittels Steg. Danach ist ein weiterer Teich und ich kann die alte Absperrung sowie ein Dixi-Klo erkennen. Die einst grüne, runde Metallstange ist schief, verbeult und offen. Direkt vor mir ist eine Holzhütte zu erkennen und an der zweiten Hütte, weiter hinten, sind mehrere Menschen. Ungefähr 15 Meter bis zum Tatort. Ich weise zum Dixi-Klo und sage der Spurensicherung, sie sollen alle Abdrücke nehmen. Vielleicht machte der Täter eine Pause. Die Leute sehen mich ungläubig an, dann das Klo und wieder zu mir, ehe sie sich geschlagen geben und naserümpfend dahin stampfen. Ich gehe an der ersten Hütte vorbei, an welcher gestapeltes und geschnittenes Holz liegt. Dabei sehe ich rechts davon noch eine Art Terrasse, die über den Teich reicht, während ich links vorbeigehe. Der Ort hier ist eigentlich wunderschön, vor allem jetzt, während die Sonne hoch steht und sich im Wasser spiegelt. Die Hütten hingegen sind schäbig, die Fläche davor und rundherum ist wild bewachsen und verwuchert. Würde mir davon eine gehören, hätte ich was daraus gemacht.

Je näher ich der Hütte komme, umso mulmiger wird es in meinem Magen. Gleichzeitig - und das dürfte ich nicht laut aussprechen - bin ich froh, dass es jetzt neue Ansätze und Spuren gibt. Auf der anderen Seite keimt Schuld in mir auf. Hätte ich es verhindern können? Oder gar müssen?

 

Der Eingang ist auf der anderen Seite, weshalb ich zuerst an der grünen Hütte vorbeigehe. Dabei nicke ich Beamten zu, drehe mich noch einmal um und mustere alles. Der Weg wurde von Autos befahren. An der Seite zum Teich ist sogar eine primitive Sitzbank ohne Rückenlehne. Anschließend stelle ich mich - natürlich mit Handschuhen und Folie über den Schuhen - dem neuen Opfer. Die Hütte hat tatsächlich eine Schiebetüre, die natürlich offen steht. Direkt beim Eintreten wird mir die Leiche präsentiert.

Es ist ein junger Mann, geschätzt 17-20 Jahre alt. Er liegt rücklings auf einem Biertisch.

Die Bauchdecke ist komplett geöffnet und der Darm ist teilweise herausgezogen, geteilt und wie zwei Schlangen gestaltet worden. Eine verläuft links über seine Schulter unter der Achsel durch. Sie umschlingt zweimal seinen Arm und mündet mit einem eklig gestalteten Kopf direkt an seiner Hand. Der „Kopf“ ist eine abgeschnittene Seite, welche geformt - ich tippe darauf - gefüllt und zugenäht wurde. An den Seiten prangen zwei spitzige Zähne, offensichtlich wieder Knochen aus dem Bein. Dieses Mal jedoch der Unterschenkel. Genauso bestialisch aufgerissen, wie beim ersten Opfer. Die Zähne der Schlangen spießen sich in den Zwischenbereich von Daumen und Zeigefinger, noch im Bereich des Handrückens.

 

Die andere Schlange verläuft symmetrisch beinahe identisch, nur dass sie über die linke Seite um den Hals verläuft, ehe sie unter dem rechten Schulterblatt verschwindet, sich zweimal um den Arm windet und in die Hand beißt. Das Blut musste nahezu getrieft haben, denn jetzt - Stunden später - tropft es immer noch vom Tisch. Wie hat der Täter es überhaupt geschafft, keine Spuren im Blut zu hinterlassen? Selbst ich bin jetzt dreimal ins Blut gestiegen.

Ray sieht in die Hütte, dabei jedoch nur mir in die Augen. Wir haben beschlossen einzeln hereinzugehen, da die Hütte recht klein ist und wir uns so gesondert einen Eindruck verschaffen können.

Links neben dem Eingang ist eine Wand mit einem großen verdreckten Fenster und rechts davon ein Durchbruch zur Terrasse. Die Hütte ist samt der Terrasse vielleicht 4 x 4 m groß. Abgesehen von der Leiche, dem Biertisch und einer Sitzbank ist hier sonst nichts.

 

Rays Mimik entgleist und fließt förmlich in den Boden, dabei hat er die Leiche bewusst ausgeblendet. Ist mein Gesichtsausdruck so bildlich, dass er alles darin ablesen kann?

»Du darfst«, sage ich, meine Stimme wirkt jedoch gehaucht und ich bin überrascht über meine Betroffenheit. Gleichzeitig fühlt es sich surreal an. Was habe ich da gerade gesehen?

Ich verlasse apathisch die Hütte und Ray geht rein, ein Rauschen dringt in meine Ohren und ich muss mich orientieren. Das gelingt mir jedoch nicht, mir wird schwindelig und ich sehe nur das Grün der Natur. Ein Beamter redet auf mich ein, das klingt jedoch wie unter Wasser, ich hebe die Hand, entschuldige mich fahrig, gehe ein paar Schritte und hocke mich hin. Dabei schließe ich meine Augen und verdecke sie. Mühsam sammele ich alles zusammen, was ich gerade gesehen habe. Sehen musste. Es ist abscheulich. Wäre ich in Amerika, wäre es vermutlich bei weitem nicht so dramatisch, aber in Deutschland? - In einem Land mit geringer Mordrate, grandioser Aufklärungsquote und - oh, ist das jetzt ein Serienmörder? Es trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht, was, wenn das nächste Opfer schon ausgewählt ist. Werde ich bald wieder so etwas sehen müssen? 

Mein Herz schlägt schneller. 

Warum tut jemand so etwas?

Ich öffne meine Augen, weil ich eine Präsenz spüre und sehe, wie mir eine Wasserflasche vor die Nase gehalten wird. Dankend nehme ich sie an und trinke ein paar Schlucke.

»Heftig, oder?«, meint die Spurensicherung. Ich nicke. 

»Wer hat das Opfer gefunden?«

Die Frau in Weiß windet sich um ihre Achse und deutet dann auf eine Frau mit einem Hund.

»Danke!«

Ich weiß, dass Ray schon sämtliche Informationen zusammen gesammelt hat, weshalb ich nicht auch noch die gleichen Fragen an die Beamten stelle. Er ist ein Datenmensch. Ich hingegen möchte erstmal unwissend sehen, was Sache ist.

»Das sind die Beamten, die als erste vor Ort waren«, zeigt die Frau vor mir in die Richtung zweier Polizisten, die ebenfalls betroffen aussehen. Völlig weiß im Gesicht, vermutlich wie ich selbst auch. Ich bewege meinen Kopf auf und ab, woraufhin sie geht und mich kurz alleine lässt. 

Es dauert auch nur noch ein paar Minuten, dann kommt Ray aus der Hütte. Nicht ganz so bleich wie ich. Immerhin einer.

»Ich versteh’s jetzt«, gibt er von sich und ich muss irritiert schauen, weshalb er sich gleich erklärt: »Deinen Gesichtsausdruck.«

Als ich mich hochgehievt habe und vor ihm stehe, spricht er weiter: »Es ist auf eine ganz andere perfide Art unansehnlich. In der Lagerhalle wurde es konserviert und es wirkte im Gesamtbild rein. Hier ist die Location schon schmutzig, die Atmosphäre dreckig und alles mit Spinnweben versehen. Das ganze Bild lässt meinen Magen drehen und der Gestank erst …«

 

Der Gestank! Wie ist es möglich, dass ich ihn so gut ausblenden konnte? Jetzt ist er voll da, gepaart mit dem modrigen Geruch eines verdreckten Weihers im Sommer. Gleichzeitig vermischt durch den zarten Hauch des Wäldchens hinter mir. 

»Was weißt du?«, versuche ich mich wieder zu fokussieren, bevor ich noch einmal hineingehe.

»Die Frau hat ihn beim Gassigehen gefunden, vor knapp einer Stunde. Oder eher war es der Hund.« Langsam nicke ich und mustere die Beiden. 

»Sie kommt gleich zur Wache und berichtet erneut.«

»Das Opfer?«

»Bisher unbekannt, laut Spurensicherung liegt der Leichnam schon mehrere Stunden. Er hat nichts dabei, weder Handy noch Ausweis. Wie bei Sabrina.«

Ich erinnere mich wieder daran und frage mich, wie wir die Daten bei ihr so schnell hatten. 

»Alkohol?«, hake ich nach. Ray schüttelt den Kopf, »wissen wir erst nach dem Tox-Screen.«

»Stimmt.« Irgendwie bin ich heute nicht ganz auf der Höhe.

 

»Sabeth, Ray. Mit euch ruiniere ich mir meine strahlend weiße Haut«, begrüßt uns Melo und kommt näher. »Warum habt ihr immer so interessante Fälle?«

Ray grinst leicht, »na, damit du rauskommst.«

Melo trägt ein Poloshirt, eine lange schwarze Stoffhose und eine Sonnenbrille. Sein schwaches Grinsen auf den Lippen und die grau-weiße Frisur lassen ihn wie einen gewieften Agenten aussehen. Oder einen Snob. »Komm mit«, entgegne ich kühl und unterbreche ihren Versuch der Ablenkung. Auch wenn er nicht zwingend mir galt.

Wir wagen uns noch einmal in die kleine Hütte. »Was ist mit einem Zettel?«, frage ich noch Ray, ehe ich eintrete. Melo ist schon drin und Ray wartet draußen. Er stellt die Frage der Spurensicherung. Sie sieht ihn fragend an, »welcher Zettel?«

»Vielleicht liegt er wieder darunter, wie bei Sabrina?«, spricht er meinen Gedanken aus.

 

»Was für eine künstlerische Darstellung. So viel Feinarbeit. Und beinahe Präzision.«

Er macht eine abfällige Geste zum Bein: »Außer das.«

»Kannst du … wirklich darin Kunst sehen?«, schwenke ich doch noch um. Melo macht einen Schritt zurück und steht jetzt in der Türschwelle zur Terrasse.

Intensiv mustert er das Opfer, jedoch auf eine objektive und betrachtende Art. So habe ich das noch nicht gesehen. Mir stößt es aber auch auf, wenn ich daran denke, dass jemand Menschen kaltblütig tötet, um sie wie ein Kunstwerk auszustellen. 

»Doch, ja, kann ich.« Als ich nichts darauf erwidere, ergänzt er: »Körperwelten. Die Ausstellung. Warum wird das als Kunst gesehen, obwohl es den menschlichen Körper in Schichten präsentiert? Ganz offiziell sogar.«

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber die Erklärung liegt auf der Hand: »Das sind Menschen, die gestorben sind und freiwillig ihren Körper zur Verfügung gestellt haben. Sie wurden nicht aus dem Leben gerissen, ermordet und so ausgestellt.«

Er geht wieder näher und mustert die Leiche, hebt sogar leicht den Kopf, wissend, dass schon Fotos gemacht und alles dokumentiert wurde. »Wieder Genickbruch.«

»Also tatsächlich, der gleiche Täter?«

»Sieht nach der Handschrift aus, auch der Schnitt, der Winkel, die Art.«

»Die Art?«, frage ich und beuge mich zu ihm, um zu sehen, wovon er spricht. 

»Jeder hat seine eigene Handschrift. Auch unser Täter - näheres aber später in sauberer Umgebung.« Melo reibt sich die Hände und will die Hütte verlassen, ich stehe jedoch im Weg.

»Hier gibt es kein Werkzeug«, stelle ich nüchtern fest. Er macht ein zustimmendes Geräusch.

»Dann hat unser Täter es dieses Mal selbst mitgebracht.«

»Vermutlich, hier wurde aber nur ein Messer benötigt, hauptsächlich.«

»Und Nadel und Faden für das Zunähen. Aber du hast recht, nichts Außergewöhnliches oder Auffälliges«, füge ich hinzu und bin überrascht, dass es, obwohl es nicht beabsichtigt war, etwas ironisch klingt.

Ich gehe endlich zur Seite und Melo verlässt den Raum. Er gibt seinen Leuten ein Zeichen und sie machen sich bereit, die Leiche abzutransportieren.

 

»Wieder Genickbruch. Melo meint, es ist unser Täter. Wie schon gedacht«, fasse ich kurz zusammen und lasse das mit der „Kunst“ weg. Ray nickt schwach und geht dann zur Spurensicherung. Ich beschließe, die Umgebung noch einmal zu inspizieren. Der Pfad ist so breit, dass ein Auto locker Platz hat. Jedoch sieht es nicht so befahren aus. Es sind Reifenrillen zu erkennen, sie scheinen aber schon alt und eingefahren zu sein. Die letzten Tage war es auch sehr heiß. Die Dürre macht es schwierig, Spuren zu sehen.

Wie ist das Opfer hier gelandet? Abgeholt und hier abgeladen worden? Spazieren gegangen und zufällig von unserem Täter erwischt worden? Wie kommt der Täter hierher und warum? Was ist das Motiv? Was verbindet unsere Opfer?

Beamte aus unserem Untersuchungsteam befragen die Anwohner, die einen Kilometer von hier ihr Anwesen haben.

 

»Sabeth!«, ruft jemand laut. Ich drehe mich und zwei Personen heben die Hand, um mich zu ihnen zu zitieren. Ray zeigt auf etwas: »Die Notiz!«

Ich werde hellhörig und beschleunige meinen Schritt - also doch. »Gestempelt mit Blut?«, entgegne ich, noch bevor ich ankomme. 

 

»Ja«, sagt er im Normalton, als ich neben ihm zu stehen komme und über die Schulter luge:

Genau wie die Schlange,

erneuert sich der menschliche Darm auch regelmäßig - verrückt, oder?

 

»Schon wieder belehrend«, erwidert Ray.

»Was sollen diese Notizen? Findet der Täter es lustig?«

Ray zuckt mit den Schultern. Das Zettelchen ist bereits eingetütet und er übergibt es der Dame, die bereits darauf wartet, es einzupacken.

Ich sehe, wie ein Mann, leicht bauchig, älter, kahl auf dem Kopf auf uns zukommt. Oder es zumindest versucht. »Sie dürfen nicht durch!«, wird er grob von einem Beamten zurückgehalten.

»Sie!«, ruft er und zeigt auf mich. »Ich habe noch etwas gut bei Ihnen!«

Irritiert schaue ich Ray an, der es auch nicht deuten kann. Doch so langsam klingelt es. Die Stimme kommt mir bekannt vor. »Herr Dahle?«

Ein paar Schritte gehe ich auf ihn zu und er bestätigt es grinsend. 

»Günther Dahle, korrekt. Können Sie mir sagen, was genau passiert ist?«

Dabei parkt er ein schwarzes Diktiergerät vor meinem Gesicht. »Wir sind noch in den laufenden Ermittlungen verstrickt und können keine Angaben machen.«

»Aber-aber. Wer ist das Opfer? Ist es wieder eine junge Frau, die arbeitslos ist?«

Ich verdrehe meine Augen. Da wir jedoch nicht wissen, wer das Opfer ist, gebe ich objektive Angaben, mit der Bitte, dass sich Angehörige melden sollen.

 

»Was ist ihm passiert? Sind Organe sichtbar oder anderweitig dargestellt, wie beim ersten Opfer? Es ist der gleiche Täter, richtig?«

Ich glaube, er hört nicht auf Fragen zu stellen, weshalb ich mich umdrehe und einfach weggehe. 

Ungehindert dessen, dass mein Kopf nicht versteht, woher er so viel wissen kann.